Vom Amelungsborner Skriptorium

In seiner langen Geschichte konnte Amelungsborn nicht nur bemerkenswerte handwerkliche, wasserbauliche und landwirtschaftliche Leistungen vorweisen. Im Mittelalter gab es im Kloster auch ein Skriptorium, wo schreibkundige Mönche von anderen Abteien ausgeliehene Bücher kopierten und künstlerisch gestalteten. Zu den Leihgebern gehörte nachweislich das nahe Kloster Corvey. Die anspruchsvolle Arbeit im Skriptorium wurde als Gebet verstanden, als gottgefälliges Werk, wie ein Schreibermönch des 14. Jahrhunderts notierte:

Diese Aufgabe ist den Mönchen eigen, die das Wort Gottes, das sie nicht mit dem Munde verkünden können, mit ihren Händen predigen.

In einer reichhaltig bestückten commune armarium monachorum (Bibliothek) als geistiger Rüstkammer der Mönche, wurden die für Gottesdienst und Ritus notwendigen Kodizes aufbewahrt, darunter auch Werke der Väterliteratur und der Zeitgeschichte, Bibelkommentare, antike Klassiker usw. Eine Bestandsliste aus der Amtszeit von Abt Heinrich III Rycolf von 1412 (Tytuli librorum in Amelungesborn anno domini MCCCCXII) dokumentiert eine Studienbücherei von 463 Titeln ohne die liturgische Literatur. Wie die berühmte unter Abt Moritz (1270-91) entstandene fünfbändige Bibel waren die Bücher überwiegend im eigenen Skriptorium entstanden.
Schon die Regula Benedicti hatte den Klosterbrüdern die Bedeutung einer Bibliothek nahe gelegt und verordnet:

Während der Fastenzeit soll jeder aus der Bibliothek ein Buch erhalten, welches er von Anfang bis zu Ende lese. Diese Bücher werden zu Beginn der Fastenzeit ausgeteilt.

Beide Räumlichkeiten lassen sich in der heutigen Klosteranlage leider nicht mehr verorten. Seinen künstlerischen Höhepunkt hatte das Amelungsborner Skriptorium unter dem Erbauer des gotischen Chores und bedeutenden Miniator Abt Johannes III. Masco (1377-1385). In den Wirren der Refor¬mationszeit fand die Amelungsborner Schriftkultur mit der Schließung des Skriptoriums ein Ende. Die meisten Bücher gingen im Laufe der Zeit verloren.

Herbert W. Göhmann, 2012