Lob der Desorientierung

Bei unserer Ruheständler-Tagung vom 2.-4.November 2015 in Amelungsborn konnten wir beim Gang zum Mittagsgebet um 12 Uhr sehen, wie das Sonnenlicht durch die Fenster bunte Streifen auf die Pfeiler und Säulen warf; beim Weg zurück war die Farbenpracht dann voll entfaltet.

Wie war das möglich? Wir blickten zum Chor nach Osten; d.h. das Sonnenlicht musste  schräg,  aus südsüdwestlicher Richtung in die Kirche fallen.

Antwort A:
Unsere Uhren zeigen MEZ und sind damit bezogen auf 15° östl. Länge (z.B. Görlitz); wenn dort die (ideale) Sonne im Süden steht, ist es 12h MEZ. Aber Amelungsborn liegt bei 9° 36´östl.Länge, also 5° 24´ westlich von Görlitz. Da die Sonne pro Grad 4 Minuten (und pro Winkelminute 4 Sekunden) braucht*, kommt sie also erst 20 Minuten und 96 Sekunden später, d.h. erst ca. 12: 21h im Süden von Amelungsborn an. Demnach könnte sie auf keinen Fall die Kirche so von Südsüdwesten her erleuchten, wie wir es gesehen haben.

Antwort B:
Die wahre Sonne, wie sie von der Sonnenuhr angezeigt wird, läuft nicht gleichmäßig wie unsere Uhren, sondern mal schneller und mal langsamer**. Am 3.November verzeichnet sie einen Jahresrekord: da geht  die Sonnenuhr gegenüber unseren Uhren etwas mehr als 16 Minuten vor. Damit steht  sie schon um 11:44h MEZ bei Görlitz und um 12:05h direkt im Süden von Amelungsborn. Das hilft ein bisschen zur Erklärung, reicht aber erkennbar nicht aus.

Bleibt nur noch Antwort C:
Amelungsborn ist desorientiert.  Und ein Blick auf Google-Maps zeigt, dass die Klosterkirche in der Tat von der Orientierung (d.h. der exakten Ost-West-Ausrichtung)  um etwa 9° nach Nordosten abweicht:


Damit aber scheint die Sonne immer schon 36 Minuten früher im rechten Winkel in die Kirche, als es bei einer exakten Ost-Ausrichtung der Fall wäre; also statt um 12:21h (s.o. bei A) schon um 11:45h. Zusammen mit dem Abweichungs-Maximum vom 3.November, an dem die Sonnenuhr 16 Minuten vorgeht, war also Zeit genug für die Sonne, um ab 11:29h MEZ  zunehmend schräger in die Kirche zu scheinen und uns zum Mittagsgebet durch ein ganz besonderes Lichterspiel zu erfreuen.  Ob das die Erbauer beabsichtigt haben mögen?
Wie auch immer, ein Lob auf ihre Desorientierung!


Anmerkungen für die, „die es unbedingt genau wissen wollen“:

* Die Zeit, die die Sonne für ihren (scheinbaren) Tagesumlauf von 360°(-einmal um die Erde-) braucht, teilen wir in 24 Stunden. Sie schafft in einer Stunde also 15° (d.h. eine unserer Zeitzonen). Bei 15° gleich 60 Minuten entspricht 1° dann 4 Minuten (und 1 Winkelminute, von denen es auch 60 pro Grad gibt, entspricht ganz passend  ebenso 4  Zeit-Sekunden).

** Die Sonnenuhr läuft gegenüber unseren absolut gleichmäßig getakteten Uhren sehr ungenau – mit Ausschlägen von  bis zu 16 Minuten „zu früh“ oder „zu spät“. Eine Übereinstimmung von Sonnenuhr und unseren Uhren gibt es nur an vier Tagen im Jahr (15.4./13.6./1.9./25.12.).
Der Grund dafür ist einerseits die elliptische Bahn der Erde um die Sonne; in Sonnennähe (im Winter!) bewegt sich die Erde schneller auf ihrer Bahn und bei Sonnenferne langsamer – und entsprechendes zeigt auch die Sonnenuhr an.
Dazu kommt als weiterer Effekt die Schrägstellung der Erdachse, wie man sie typisch von jedem Globus kennt. Wenn man um einen solchen Globus -parallel zur Tischplatte!- ein Maßband legen würde, hätte man damit die Jahresbahn der Sonne über die Erde markiert. Die Schnittpunkte mit dem Äquator zeigen die möglichen Frühlings- und Herbstpunkte an; die Wendekreise für Sommer und Winter (an den nördlichsten und südlichsten Punkten des Maßbandes) kann man damit  auch ablesen. Zugleich –und nur darauf kommt es hier an- kann man an dem Maßband aber auch nachvollziehen, dass die Sonne im Sommer und Winter weniger lange braucht, um von Längengrad zu Längengrad und damit von einer Zeitzone  in die nächste zu gelangen, als das bei der Überquerung des Äquators im Frühjahr und Herbst der Fall ist. (Übertreibend vereinfacht: Es geht schneller, kleinere Quadrate im Norden und Süden parallel zu den Seiten zu durchqueren als größere am Äquator in der Diagonale).


Georg F. Berger  20151227 – 52°21´49“ nördl. Breite / 9°42´24“ östl. Länge
             (d.h. Sonntag nach Weihnachten 2015 in Hannover-Linden)

 

Nachwort von Abt Gorka:

Die Sache mit der Desorientierung stimmt haargenau. Die Ost(er)-Bestimmung war ja im 12. Jahrhundert noch strittig und der nasse Magnetkompass zwar erfunden, hatte sich aber noch nicht durchgesetzt. Deshalb hat die Kirche ja auch diesen schönen Achsknick, für den offenbar auch die präzisere Ostung verantwortlich ist. Untermann, der Nestor zisterziensischen Kirchbaus, äußert sich ähnlich. Aber auch hier konkurriert die wissenschaftliche Erklärung mit der liturgischen:

Da die Wanderbaumeister der Zisterzienser zu keiner Zeit zu blöd waren, einen Bildfaden zu spannen, geht man von der ab dem 13. Jhdt. präziser möglichen „Orientierung“ aus, quasi als Versuch der Fehlerkorrektur.

Die liturgische Deutung hält dagegen: Schon im Grundriss der Kirche soll sich das geneigte Haupt des Gekreuzigten abbilden.

Ich denke, beides wird stimmen.