Heilige Räume

Die Entdeckung des heiligen Raumes
von Dietrich Kunze

Das Jahresthema 2003 der Familiaritas des Klosters Amelungsborn ist der „Segen“.
Bruder Dieter Kunze, Familiare, will seine Überlegungen in diesen Rahmen gestellt sehen.
Er trug seine Gedanken auf der Gästetagung 9. bis 11. Mai 2003 vor.
 

A.

1.
Der Segen ist in augenfälliger Weise mit einer Gestik verbunden. In Gestalt der ausgebreiteten Arme und Hände ist er raumgreifend: der Segen breitet sich aus! In der Handauflegung fließt der Strom des Segens über in einen anderen Körper und schafft sich dort seinen Raum. Selbst wenn wir auf die Gestik beim Segen verzichten – sie nur dem aaronitischen Segen, der Einsegnung und der Absolution vorbehalten - : Der Klang der Stimme, die den Segen transportiert, ist ein Raumklang und erfasst uns, soweit die Stimme trägt. Vollends in der Gestik des Kreuzeszeichens werden die räumlichen Dimensionen deutlich. Und so sehr natürlich dieses Zeichen immer wieder die Heilszusage im Gekreuzigten vermittelt, so sehr zeigt es auch an, dass dieses Heil alle vier Himmelsrichtungen umfasst. Der Raum, in dem der Segen erteilt wird, wird damit zum Kosmos mit seiner Mitte in Christus.

2.
Der Segen bezeichnet den Ort einer Gotteserfahrung. Dieser Ort wird definiert entweder als Ort einer grundlegenden Gottesbegegnung, wie z. B. in der Jakobsgeschichte (Genesis 28), oder er wird errichtet, konstruiert als Ort einer sich immer wiederholenden und damit erwarteten Gottesbegegnung. Jakob definiert den Ort seiner Gottesbegegnung, indem er Steine zu einem Altar aufhäuft; der Ort wird damit ausgegrenzt, geheiligt, und – etwa im Bau unserer Kirchen – geweiht. Die Kirchen sind eben nicht nur Funktionsräume zur Versammlung der Gemeinde, sie sind Einbruchstellen des Göttlichen, des Heiligen. So vollzieht sich der Bruch unserer Welt in das Heilige und das Profane.

3.
Von da her ergibt es sich, dass wir von heiligen Räumen sprechen können. Damit aber, mit dieser Bezeichnung, verbinden sich gerade im protestantischen Bereich schwerwiegende Vorbehalte, theologische Kontroversen, unterschiedliche Bewertungen des Christentums im Verhältnis zu anderen Religionen.

Angesichts einer umfassenden „Entsakralisierung“ unserer Welt muss ich also begründen, warum ich es wage, von heiligen Räumen zu sprechen. Dieses Wagnis ist allerdings hier in Amelungsborn und unter Brüdern, den Geheiligten in Christus, nicht besonders groß. Aber gerade im Falle einer wahrscheinlich zustimmenden Empfindung habe ich das Thema „Heiliger Raum“ näher zu bestimmen mit dem Worte „Entdeckung“ oder sogar „Wiederentdeckung“.

B.

Merkwürdig, Brüder, dass mir erst nach längerer Einstimmung auf dieses Thema einfiel, wie stark die Ehrfurcht vor dem heiligen Raum mein Lebensthema ist. Ja, das Erlebnis des Kirchenraumes war das grundlegende religiöse Erlebnis in meiner Kindheit, lange, bevor ich die Erfahrung eines Gottesdienstes machte oder wusste, dass es eine Bibel gab. Es war das Erlebnis des Neunjährigen im Königsberger Dom und ich schnuppere heute noch den strengen Geruch des Domes nach Karbolineum, verbunden mit der Vision des glühenden Goldes des Hochaltars im dämmerigen Raum.

Mit dem, was ich kurz beschrieben habe, gebe ich schon das nächste Stichwort: nämlich, dass Gott in seiner Offenbarung anknüpft an ein Raumerlebnis des neunjährigen Kindes. Was mir in meinem späteren Leben aufgegangen ist, beruht tatsächlich auf diesem Erlebnis der Atmosphäre des Raumes. Mit diesem ästhetischen Begriff umreiße ich die schwer bestimmbare Erfahrung der Besonderheit bzw. Heiligkeit des Raumes: er atmet die Gegenwart Gottes.

Es ist das Faszinosum, was mich ergriffen hatte, weniger das Erzittern, die Erschütterung, das Tremendum vor der Heiligkeit Gottes, das der Prophet Jesaja in seiner Vision des Tempels erlebt hatte.

In beiden Fällen (ohne dass ich mich mit Jesaja auf eine Stufe stellen möchte) ist der Boden vorbereitet worden für Gottes Wort und seine Berufung.

Quer dazu steht der Einspruch Karl Barths gegenüber seinen früheren Mitstreitern der dialektischen Theologie, Emil Brunner und Gogarten, es gäbe für Gottes Wort eben nicht diese Einbruchpforte, diesen sogenannten Anknüpfungspunkt, während diese stärker die anthropologischen bzw. religiösen Voraussetzungen betonten. Natürlich gibt es den prophetischen Widerspruch gegen die Verortung der Gotteserfahrung im Tempel bzw. das Wort im Johannes Evangelium (Gespräch Jesu mit der Samariterin am Brunnen): „Ihr werdet nicht mehr in Jerusalem oder auf den Garizim anbeten, sondern im Geist und in der Wahrheit.“

Infolgedessen beeindruckte mich Martin Niemöller, als er konstatierte: Christentum ist keine Religion; eine Feststellung, die angesichts dessen, was im Nationalsozialismus an Pervertierung und Instrumentalisierung religiöser Gefühle geschah, nur allzu verständlich ist.

C.

Dieser prophetische Einspruch hat besonders in den 68er Jahren eine „Entsakralisierung“ des Glaubens nach sich gezogen. Man rief aus: „Kein Geld für repräsentative Kirchtürme! Ein Stall für den Gottesdienst!“

Positiv gesehen war das eine Verinnerlichung des Glaubens, verbunden mit einer Ethisierung und Umsetzung des Glaubens in die gesellschaftliche Problematik. Negativ hatte sich jedoch der Glaube „entleibt“ bis auf das dürre Wortskelett. Die Bibelübersetzungen verzichteten auf die Kraft der Poesie, die Liturgie verlor ihre mythischen Sprachbilder. Die Kirchen wurden Funktionsräume. Das alles inmitten einer ohnehin schon völlig entsakralisierten Welt. Die Spannung zwischen Heiligem und Profanem schien aufgehoben zu sein, man erstrebte eine gewisse Niederschwelligkeit zwischen beiden Bereichen.

In den letzten Jahrzehnten vollzog sich dann eine Wiederentdeckung des Religiösen, dessen Profit der Kirche allerdings entging. Er kam dem zugute, was man unter dem Begriff Esoterik zusammenfasst oder sich in der Hinwendung zu anderen Religionen ausdrückte.

In der Architektur führte es dazu, dass Räume gesellschaftlicher Bedeutung wie Bahnhöfe, Stadien, Messehallen und als jüngstes Beispiel die Autostadt Wolfsburg (Architekt Gunter Henn) sakral aufgeladen wurden.

Über das Bedürfnis danach besteht kein Zweifel, ja es geht sogar soweit, dass heute fast jedes banale Event überhöht wird, weil der säkularisierte Mensch, genauer gesagt der Euro-Amerikaner, sich darin selber inszenieren muss.

Das Umdenken bzw. „Umfühlen“ in der evangelischen Kirche geht langsam, allzu langsam vor sich. Sie begreift schwer, dass sie in ihren Räumen einen Schatz hat, der nicht nur kunsthistorisch und touristisch zu vermarkten ist, sondern in denen sich das „ganz Andere“, das heilige erfahren lässt. Ein Symptom des allmählichen Begreifens ist die Forderung nach Offenhalten der Kirchen, oder etwa, dass unsere Bischöfin bei der 500-Jahr-Feier der St. Dionysius Kirche zu Adensen von einem „durchbeteten Raum“ spricht und die Wirksamkeit der Gebete mit den Kerzen und Gebeten vergleicht, die die Wiedervereinigung vorbereiteten, erbaten, herbeiführten.

Gegenanzeigen waren und sind bemerkbar, dass z.B. noch vor vier Jahren in Hildesheim, St. Michaelis, erbittert dagegen gestritten werden musste, dass der Kirchenvorstand die neue Orgel in die Ostapsis der Kirche stellen wollte, und heute dagegen gestritten werden muss, dass der- selbe Kirchenvorstand den neuen Altar wegtragbar gestalten will, um Platz für eventuelle kirchenmusikalische Aufführungen zu schaffen.

Der Leipziger Kirchbautag des vorigen Jahres, der ganz bewusst in der neuen, sakral aufgeladenen Messehalle stattfand, formulierte mein Thema noch vorsichtig: „Sehnsucht nach heiligen Räumen – eine Messe in der Messe.“
 

D.

Aber nun ist die Zeit, die Sache „Heiliger Raum“ auf den Begriff zu bringen, unter der Voraussetzung, dass ich Christentum als Religion begreife, mich selber als religiös empfinde und Euch unbefangen darin vereinnahme. Ich vollziehe daher keine – mir arrogant erscheinende – Abgrenzung gegenüber anderen Religionen, weder in ihrer vergeistigten Form noch in ihrer magisch-animistischen Gestalt.

Ich beziehe mich auf den französisch schreibenden Religionshistoriker Mircea Eliade („Das Heilige und das Profane – Von Wesen des Religiösen“, Insel TB 2242, 1998), auf Manfred Josuttis („Religion als Handwerk“, Gütersloher Verlagshaus, 2002) und auf Fulbert Steffensky (In: „Dokumentation des Leipziger Kirchenbautages“, Verlag Das Beispiel, Darmstadt, April 2003).

Eliade schreibt (Seite 23): „Für den religiösen Menschen ist der Raum nicht homogen; er weist Brüche und Risse auf: Er enthält Teile, die von den übrigen qualitativ verschieden sind: › Komm nicht näher heran ‹ , sprach der Herr zu Mose, › leg deine Schuhe ab, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden ‹ “(Exodus 3,5). Es gibt also einen heiligen, d.h. „starken“ bedeutungsvollen Raum, und es gibt andere Räume, die nicht heilig und folglich ohne Struktur und Festigkeit, in einem Wort amorph sind.

Mehr noch: Diese Inhomogenität das Raumes erlebt der religiöse Mensch als einen Gegensatz zwischen dem Heiligen, d.h. dem allein Wirklichen, wirklich existierenden Raum und allem übrigen, was ihn als formlose Weite umgibt.“

Dieser Einbruch des Heiligen in das Chaos eines formlosen Raumes kommt einer Weltschöpfung gleich. Die Welt ordnet sich zum Kosmos.

Eliade bezeichnet die Offenbarung des Heiligen als Hierophanie, „nämlich, das etwas Heiliges sich zeigt.“ (Seite 14)

„Da sich das Heilige durch eine Hierophanie manifestiert, kommt es nicht nur zum Bruch in der Homogenität des Raumes, sondern darüber hinaus zur Offenbarung einer absoluten Wirklichkeit, die sich der Nicht-Wirklichkeit der unendlichen Weite ringsum entgegenstellt.“

In der Hierophanie orientiert sich der (bisher) formlose Raum um ein Zentrum bzw. in Richtung auf ein Zentrum. Daher gibt es die Jerusalem-Orientierung der christlichen Kirche. Dass aber ausgerechnet der Petersdom in Rom genau wie die Bonifatiusbasilika in Fulda eine Westorientierung hat, erklärt sich aus ihrer Bezugnahme auf das Petrus- bzw. Bonifatiusgrab.

Der Raum bzw. der Ort der Hierophanie ist heilig oder – man kann es kühn sagen – er wird gewissermaßen geschaffen, konstruiert in der Weihe.

Eliade weist darauf hin, dass es sich für den archaischen Menschen (und nicht auch für den heutigen religiösen Menschen?) um einen Akt der Weltschöpfung handelt. Zur Bezeichnung der Zentrierung des Raumes durch den Einbruch des Heiligen findet man oft Stelen, Pfähle oder Säulen aufgestellt. Daher auch der heilige Baum, die Weltesche der Germanen, die Jakobsleiter als Symbole einer Weltachse. Ich interpretiere die Christussäule in der Michaeliskirche eben nicht nur als Ableitung aus der Siegessäule des Kaisers Trajan in Rom, sondern sie ist das Symbol der Weltachse in Christus am Ort des Altars in einem Raum, der seinerseits Abbild des göttlichen Kosmos ist.

Am Bau der Kirchen, gewissermaßen einer Materialkonstruktion des heiligen Raumes, an seiner verschwenderischen Ausdehnung, an seiner oft entrückenden Höhenentwicklung und doch wiederum auch an seiner Orientierung an der leiblichen Begrenzung des ihn bewohnenden Menschen (ausgedrückt in den Baumaßen in Fuß, Elle, Spann) wird klar, dass wir diesen Raum brauchen.

Gott braucht keinen Raum, aber wir brauchen ihn, um als religiöse Menschen existieren zu können.

Es ist ein ausgeschiedener Raum, aber er ist mitten in einer profanen Welt ein Anteil am absoluten Sein Gottes. Der holländische Theologe Heiko Cornelis Miskotte prägte den Satz: „Mitten in der Welt, von der Welt unterschieden.“

Spätestens hier sind ein paar Erläuterungen zu den hier verwendeten Begriffen heilig, geweiht, sakral und profan angebracht.

Die Ausgangsbedeutung von germ. „heilig“ ist „zugehörig, eigen.“ Was der Gottheit zugehört, ist ihr auch geweiht. Das ebenfalls germ. Wort „weihen“ wird synonym gebraucht und tritt später zugunsten des „heilig“ zurück, und wird in der angelsächsischen Mission durch „sanctus“ übersetzt. Das wiederum ist ein Adjektiv zum Verbum „sancire“, begrenzen, umschließen, und (dadurch) heiligen und mündet in das Wort „sakral“ ein. Der Gegensatz ist „profan“, das bedeutet „pro fanum“, vor dem Heiligen liegend.

Abschließend zu Eliade gesagt: Ohne die Entdeckung bzw. die Offenbarung des Heiligen im Raum, seiner Verortung im Raum, kann für den religiösen Menschen nichts beginnen, es kann nichts geschehen ohne vorherige Orientierung. Und, vor allen Dingen, wir können als religiöse Existenzen nur leben in einem nach oben geöffneten Raum, im Gegensatz zur total in sich gekrümmten Existenz in einem entsakralisierten, verschlossenen Raum der gegenwärtigen Moderne.

Im byzantinisch-orthodoxen Kirchenbau ist das Symbol für den christlichen Kosmos am reinsten erhalten. Der Raum in seiner Erstreckung nach allen vier Himmelsrichtungen, in seiner Überkuppelung nach oben offen, in der Transparenz der Bilderwand, bewirkt die Durchbrechung der Ebenen zwischen Himmel und Erde. Er ermöglicht den Transitus von einer Seinsweise zur anderen, biblisch gesprochen von dem „aus der Welt leben“, zu dem „aus dem Glauben leben“, dem Sein in Christus.
 

E.

Mit Manfred Josuttis erläutere ich nun im Folgenden den neutestamentlichen Befund. Josuttis gebraucht dabei Begriffe, die auf dem Hintergrund der traditionellen protestantischen Theologie erstaunlich erscheinen.

Zentral ist für ihn der Begriff der „Weihe“. Wenn man bedenkt, wie entleert ein Weiheakt bei uns sein kann, bis dahin, das einige von einer „Ingebrauchnahme“ einer Kirche sprechen, so wird es deutlich, welches Umdenken sich in unserer praktischen Theologie vollzogen hat.

Ich zitiere Josuttis: „Wenn das Göttliche in irdischen Räumen einzieht, dann lässt sich dieses Geschehen von den Abläufen eines profanen Wohnungswechsels her strukturieren. Das neue Lebenszentrum will ausgewählt werden. Es muss von den Spuren der Vorbewohner gereinigt werden. Und es muss mit jenen Utensilien ausgestattet werden, die durch ihre auratische Macht für die neuen Bewohner den Eindruck einer befriedeten Welt vermitteln.

Deshalb umfassen alle Verfahren religiöser Weihen immer auch Akte der Auswahl, der negativen Reinigung und der positiven Aufladung“ (Seite 122).

1.
Das neue Testament umfasst aufgrund seiner endzeitlichen Ausrichtung lediglich eine Zeit, in der es noch nicht zur Aussonderung eigener Räume für den Gottesdienst gekommen war. Der heilige Raum, um den es hier geht, ist der Gläubige selbst. Paulus konstatiert: „Der Tempel Gottes ist heilig, der seid ihr“ (1. Kor. 3,17)

Der Epheserbrief sieht die Gemeinde wachsend zu einem heiligen Tempel im Herrn, in dem auch die Gläubigen miterbaut werden zu einer Wohnung Gottes im Geist (Epheser 2,20 ff). Es wird also ein Leibraum geweiht. Die Weihe ist die Priesterweihe der Christen, die in der Taufe geschieht. Die Taufe ist also der Akt, in dem die Besetzung des Leibraumes durch eine andere Macht, den heiligen Geist, vollzogen wird. Wie oft bei Paulus wird das formuliert angesichts einer in der Gemeinde aufgetretenen Konfliktsituation: „Wisset ihr nicht, das euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes in euch ist, den ihr von Gott habt, und dass ihr euch nicht selbst angehört?“
(1. Kor. 6,19)

Die Präparation (Weihe) braucht eine gewisse Zeit. Der Taufbewerber unterlag und unterliegt einer Auswahl. Die negative Reinigung vollzog sich noch bis in reformatorische Taufordnungen hinein in der Absage an den Bösen, den Teufel, begleitet durch den Reinigungsritus des Wasserbades und wird abgeschlossen durch die positive Aufladung mit der Zusage im Credo. So vollzieht sich der Transitus des heiligen Geistes in seinen Leibraum.

2.
Heilige Räume nun, in denen die Erbauung des Leibes Christi geschieht, müssen erbaut werden. Es gibt also nicht nur Leibräume, sondern auch Ortsräume. Die wachsende Kirche hat dabei nicht an die antiken Tempel anknüpfen können, denn diese boten eigentlich keinen Raum für die Versammlung der durch die Taufe geweihten Christen. Sie okkupierte den Raum der Basilika, eines durchaus profanen Gebäudes, das jedoch eine umfassende soziale Bedeutung verkörperte. Die Okkupation geschah negativ durch Reinigung von allen vorchristlichen Elementen. Andererseits knüpfte man unbefangen an schon traditionell vorhandene Orte an. In der Hierophanie christlicher Heiliger an ihren Grabstätten wurden dann erneut heilige Orte definiert und in der Regel mit Kirchen überbaut.

Die dezidierte Weihe eines solchen Ortes erfolgt heute noch nach zwei Modellen.

Das erste Modell kann man als katholisch bezeichnen, es orientiert sich am pontificale Romano-Germanicum aus der Zeit um 950. Ich beschreibe den Vorgang nicht näher. Kirchweihe ist hier im Kern Altarweihe. Das Verfahren umfasst Gesten und Bewegungen durch geweihtes Personal, die Verwendung von geweihten Materialien, die Fixierung von heiligen Zeichen auf dem Grund und an den Grenzen des Raumes, so wie die Lokalisierung heiliger Leiblichkeit in Form von Reliquien.

Die Weihe an den Titelheiligen nimmt dessen geistliche Energie genau so in Anspruch wie später im protestantischen Raum die Geisteskraft evangelischer Zeugen des Glaubens beansprucht wird (z.B. „Dietrich-Bonhoeffer-Kirche“).

Das zweite Modell der Kirchweihe ist nicht altarkonzentriert, sondern wortorientiert und kann als evangelisches Modell gelten.

Dabei muss man bedenken, dass das Wort bei Luther sakramentale Qualität hat. „In seinem Wort reitet Christus in seine Gemeinde“, hat er sagen können.

Die Worte in Lesungen, Predigt und Gebet haben eine raumerfüllende Macht. In der berühmten Weihepredigt Luthers in der Schlosskirche zu Torgau nimmt er die anwesenden Christen als Träger der Weihevollmacht in Anspruch: „Und nun jr es, lieben Freunde, habt helffen besprengen mit dem rechten Weyhwasser Gottes Worts, so greiffet nu auch mit mir an das Reuchfas, das ist: zum Gebet.“

Altar und Kanzel stehen in Torgau in einer Achse. Das ist nicht nur eine künstlerische Symmetrie, sondern: Das Wort hat Teil an der von Luther energisch festegehaltenen raumgreifenden, leiblichen, wirklichen Präsenz Christi im Abendmahl.

Die exklusive Weihe eines Ortes, eines Raumes an den heiligen Gott in Christus hat natürlich auch eine ausschließende Funktion. Wir müssen bei unseren Kirchen mit Sorgfalt abwägen, welchen Ereignissen wir sie neben dem Gottesdienst öffnen. Nivellieren wir den heiligen Raum zu einem Gehäuse banaler Alltäglichkeiten, so könnte er durch den energetischen Austausch mit dem, was darin geschieht, in seiner Kraft beeinträchtigt werden.
 

F.

Aber zu dem, was nun die Qualität eines solchen Raumes ausmacht, füge ich noch ein paar Gedanken im Anschluss an Fulbert Steffensky bei. Dieser hat ja bei uns eine wahre, ökumenische Autorität mit seiner Herkunft aus Maria Laach und seiner späteren Integration in das reformatorische Verständnis des Glaubens.

Steffensky stellt fest, dass wir einerseits den Raum unserer Kirchen durch unsere Gebete, Lobgesänge, Verkündigungen und Segenshandlungen als heilig definieren, andererseits aber auch der Raum von außen die „Seele arrangiert“, wie er sich ausdrückt. Hier vollzieht sich also eine Einwirkung von außen nach innen. Der Raum weist uns ein in unsere Rollen als Beter, als Lobsingende, als Liturgen oder als Schweigende und Meditierende. Der Raum redet auch von jenen, die vorher in ihm lebten.

Die Atmosphäre des Raumes erzwingt ein anderes Verhalten:

  1. Wir werden ruhiger durch die Ruhe des Raumes oder auch unruhiger, weil wir die Ruhe nicht ertragen, weil der Raum unser lärmendes Wesen in Frage stellt. Stille und Erhabenheit charakterisieren die Atmosphäre des heiligen Raumes. Und es ist die Frage – so Steffensky – ob nicht das laute Reden oder das geschäftige Gebaren vor dem Gottesdienst diese Raumenergie empfindlich schwächt.

  2. Damit ist auch gesagt, dass uns der heilige Raum als ein Fremder gegenüber tritt, als Kontrast. Er ist nicht der Markt, wo das Geschäft, nicht das Wohnzimmer, wo der Stil und die Dinge um uns herum nur uns selber repräsentieren.

  3. Der heilige Raum braucht auch eine gewisse Strenge und Kargheit und unter Umständen sogar eine Zurücknahme unserer technischen Möglichkeiten. Davon haben die frühen Zisterzienser gewusst und so kann uns mancher Barockraum in seiner Überbordung geradezu erschlagen. Aber auch das Münster in Doberan ist nach dem Empfinden mancher ausstattungsmäßig überfrachtet.

  4. Der heilige Raum ist auch nicht in erster Linie ein Raum zum Diskutieren, kurz gesagt, nicht ein Raum für unser Aktionsbedürfnis, sondern eher der Passivität, des Hörens. Auch in der sogenannten monologischen Predigt ist der Hörer ein Co-Autor. Er schweift ja ab, assoziiert, spinnt den Faden weiter, er wählt aus, verwirft oder bejaht. Der Raum ist ein Aufnahmeraum, in dem wir nicht die Sendenden, sondern die Empfangenden sind.

 G.

Zum Schluss noch drei Dinge für den Architekten:

  1. Er wird den Raum im Grundriss und in der Höhenentwicklung nicht funktionalisieren.

  2. Die Lichtführung ist eine entscheidende Voraussetzung für die Atmosphäre des Raumes. Die heilige Dämmerung und eine diaphane Lichtführung durch gebrochenes oder farbiges Glas grenzen den Raum aus der ungebrochenen Lichtfülle von außen ab.

  3. Und schließlich das Material. Entweder ist es Signal für das Erhabene in seiner Kostbarkeit. Oder es ist die bewusste Aufnahme ökologisch verwertbarer Materialien wie bei der EXPO-Kirche in Schneverdingen. Oder es ist das gewöhnliche, technische Material unserer Zeit, gefertigt rein industriell, z. B. in der Thyssenhütte wie beim Christuspavillon, oder bei der Buderus-Ofengießerei, wie bei den Prinzipalstücken der Zwölf-Apostel-Kirche in Hildesheim.


 Ich schließe mit einem sich auf Amelungsborn beziehenden Zitat von Hans-Georg Jaedicke vom August 1991:

 „Die Klosterkirche hatte eine mächtige Anziehungskraft auf jeden von uns. Schon hinter Eschershausen rief uns das Bild ihres Turmes. Der Abt verstand es, uns bildhaft den altehrwürdigen Bau lebendig zu machen. So sagte er einmal, dass vom zwölften Jahrhundert an die Gebete der früheren Mönche unhörbar weiter klingen. Es gäbe Gottes Wort in Stein; in Ton und Musik werde es verkündigt und nicht zuletzt im Wort. So war vieles, was den Geist von Amelungsborn prägte, nicht rational ausdrückbar.“   
(Aus: „Einige Gedanken zum Werden und Wachsen der Familiaritas des Klosters Amelungsborn“, Band 7 der Beiträge aus dem Kloster Amelungsborn, Seite 49, 1992)


© 2003 Dietrich Kunze

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