Abtsbericht 2005

Abtsbericht beim Kapiteltag
im Kloster Amelungsborn am 11.6.2005

Liebe Schwestern und Brüder,

ich möchte uns zunächst mitten im Jahr an die Jahreslosung erinnern:

Christus spricht:
Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.
Lk 22, 32[1]

Kann Glaube aufhören? Kann, was uns im Innersten zu Zeuginnen und Zeugen Christi macht, womöglich mir nichts, dir nichts abbrechen? Aus der Seelsorge ist uns vertraut, dass Menschen in und nach erschütternden Ereignissen die Theodizee-Frage stellen, die Gottsuche einstellen und sagen: Wer das geschehen lässt, der kann nicht Gott und schon gar nicht mein Gott sein. Oft versuchen wir dann behutsam ihren Blick zu wenden und tastend davon zu erzählen, dass Christus neben dem Sterbenden gesessen und ihm die Hand gehalten hat: Ich gehe mit dir in den Tod - und in ein neues Leben.

Ich erlebe in Gesprächen mit suchenden Menschen, aber auch mit Vikarinnen und Vikaren, die ordiniert werden, auch bei Pastorinnen und Pastoren mit etlichen Dienstjahren, dass es Mangelerfahrungen, glaubensarme, wenn nicht gar glaubenslose oder glaubensfreie Zeiten gibt. Ich sehe den Kollegen vor mir, der, enttäuscht von der Kirchenleitung, die sein Fortkommen zu hindern und seine wahre Qualifikation nicht erkannt zu haben scheint, in eine innere Emigration gegangen ist. Ich kann seinen Glauben nicht mehr benennen. Und er kann es auch nicht. Er verlässt sich auf sein „Repertoire”. Was früher lebte, sich und andere bewegte, das ist erstarrt, aber dies in einer literarisch sehr angenehmen Form, so dass man nicht gleich merkt, wie leer es da drinnen ist. So wie es die Sprache des Glaubens gibt, gibt es offenbar auch Sprache als Glaubensersatz. Das muss wenigstens als Möglichkeit gedacht werden.

Gleichwohl ist dem Heiligen Geist mehr Kraft und Wirksamkeit zuzutrauen als menschliche Schwäche ihn hindern kann. Das stockend vorgetragene Glaubensbekenntnis der Vor- und Nachkonfirmanden aller Jahrgänge kann den Glauben ebenso wiedererwecken wie die liturgisch gekonnte Vortragsform den Glaubensarmen an seiner Armut zweifeln lässt.

Wie gut und heilsam, dass es fein gefügte liturgische Formulare gibt wie in unseren Tagzeitengebeten. Wie gut, dass wir nicht fortwährend unseren aktuellen Glaubensstand zu Gehör bringen müssen, sondern uns den tiefen Glauben der Vor- und Gleichzeitigen ausleihen, ja sogar zu eigen machen dürfen. Die Tagzeitengebete leben mit Blick auf den biblischen Text, den sie rezitieren, deutlich stärker von Originaltreue als von Originalität. Das wird und muss nicht jedem gefallen, das darf auch nicht die einzige Form der Ausdrücklichkeit des Glaubens sein, muss aber im Stimmengewirr des Glaubens seinen Platz haben. Biblische Originaltreue, Demut und Gehorsam gegenüber dem Kanon, von dem wir wissen, dass und wie er geschichtlich gewachsen ist, ist ein verbindendes Merkmal aller monastischen und aller lutherischen Theologie. Gerade gegenüber liturgischen Formulierungen der Marke Eigenbau empfinde ich die Amelungsborner Tradition als sehr hilfreich, disziplinierend und ökumenisch verbindend.  

Zurück zur Losung: Aufhören, das meint ja mehr als Zweifel haben. Zweifel zu haben, auch Anfechtung zu erleben, das gehört - so Luther - untrennbar zur Existenz des Theologen und der Theologin [2] und als solche betrachte ich alle Mitglieder der klösterlichen Gemeinschaft. Aufhören, das ist nicht das Ende der Glaubensgewissheit, sondern das Ende des Glaubens.

Gibt es das also: Mitten im Leben des Frommen die Stunde Null des Glaubens? Und wenn es das gäbe: Wäre das nicht furchtbar? Niederschmetternd? Entmutigend? Wer oder was gibt uns denn Glaubensgewissheit, wenn nicht einmal auf die ersten Zeugen Verlass ist? Oder muss Glaube in seinen Gewissheiten auch einmal zu Bruch gehen, um neuen, tieferen Einsichten Platz zu machen?

Simon, genannt Petrus, der Apostelfürst, der Glaubensvirtuose - ist der plötzlich religiös unmusikalisch geworden? Simon war immer eifrig bei der Sache Jesu. Aber nun? Der Vers geht weiter: „Wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder.” Noch einmal niederschmetternd. In welche Gesellschaft hat Jesus von Nazareth, der Christus, sich da eigentlich begeben? Hat der vertraute und vertrauenswürdige Wegbegleiter, der Apostelfürst seine Bekehrung erst vor sich? Folgen wir der Chronologie des Lukasevangeliums, dann befinden wir uns mit der Abendmahlsgesellschaft in dem großen Saal mit den Polstern, das Mahl ist „eingesetzt”, die Jünger fragen sich, wer von ihnen Christus verraten wird. Da entsteht der Rangstreit unter den Jüngern: Wer ist der Größte? 

Was für eine menschliche Frage. Wer ist der Größte? Wenigstens ist die Antwort offen gehalten. Das ist schon ein Riesenvorteil in Zeiten, in denen viele Menschen die Frage längst selbst  beantwortet haben: Ich bin der Größte. Und wenn ich es nicht bin, dann leide ich wenigstens darunter, dass ich nicht der oder die Größte bin. In der Regel aber herrscht doch große Übereinkunft zwischen gefühltem Selbst- und gefühltem Fremdanspruch: Ich bin der Größte. Alles dreht sich um mich. Das kann auch für Fromme gelten: Alles dreht sich um mich - sogar Gott. Lasst uns nicht so weit herunter kommen und Gott bitten, in unserer kleines Leben, ins Leben unserer Gemeinschaft, ins Leben von Kirche und Welt vital und aktiv einzugreifen und nicht lediglich Kulisse unserer Biografie zu sein: Bleib wach, du Geist der ersten Zeugen!

Bloß, was waren das für Leute?  

Liest man Text und Kontext, dann fällt auf, dass das Gebet Jesu für Simon ein Privileg ist. Deutlich wird auch, wie nötig Petrus diese Fürbitte hat. Jesus weiß um den Graben zwischen Wort und Tat. Aber er liebt den Gottlosen. Das ist seine und unsere Chance. Der Glaube, wie von selbst ein Gott wohlgefälliges Leben führen zu können, musste zerbrechen. Denn dieser Glaube kommt ohne Gott aus. Dieser Glaube musste aufhören, um dem Größeren Raum zu geben, dass sogar der künftig Gottlose seinen Platz im Heilshandeln behält. Die Liebe Christi ist stärker als jede Selbstüberschätzung, ja sogar als jeder Verrat. 

Mir kommt in diesem Zusammenhang der Aufsatz von Wilfried Härle „Den Mantel weit ausbreiten”
in Erinnerung [3]. Er fragt - von mir jetzt stark verkürzt - welchen Sinn das Gebet und die Fürbitte haben kann, wenn davon auszugehen ist, das Gott aktuell allwirksam, allwissend und vollkommen gut ist. „Das Bittgebet, in dem ein Mensch sich mit seinen Sorgen, Ängsten, Wünschen, Hoffnungen an Gott wendet, erscheint einerseits als ein elementarer Akt und Ausdruck des Gottvertrauens. Andererseits erscheint dieser selbe Akt, wenn er (naheliegenderweise) verstanden wird als ein Versuch, Gott zu einer Handlung zu veranlassen, die ohne das Gebet nicht geschehen wäre, als ein Akt und Ausdruck mangelnden Gottvertrauens. (a.a.O. S. 239)

Härle löst den Widerspruch wie folgt auf:

a) Es (das Bittgebet) ist Bitte um etwas, das ohne diese Bitte nicht geschähe - weil die Bitte selbst das Mittel ist, ohne das der Beter das Erbetene gar nicht empfangen könnte.

b) Es erbittet, erwartet und empfängt das Erbetene von Gott - weil der Mensch selbst nicht in der Lage ist, sich hinsichtlich der Grundbestimmungen seines Daseins zu verändern.

c) Es ist nicht eine Einwirkung auf Gott, die Gott zu einem Handeln veranlasst - weil in der Erhörung des Gebetes nichts anderes geschieht, als dass Gottes ewiger Wille zu der von ihm ersehenen Zeit zur Erfüllung kommt.

Das heißt aber: Das Gebet bewirkt nicht, dass Gott das Erbetene gibt, sondern im Gebet empfängt der Mensch das, was Gott ihm geben will. Umgekehrt gilt jedoch: Die Unterlassung des Gebets verhindert, dass Gott dem Menschen das Verheißene gibt, weil der Mensch nicht empfängt, was Gott ihm geben will.” (a.a.O. S. 241/ 242)

Härle weist an anderer Stelle darauf hin, dass dieses Gebetsverständnis auch auf die Fürbitte anzuwenden ist, wenngleich immer unter dem Vorbehalt: Dein Wille geschehe! 

Christus betet für den glaubensschwachen Simon Petrus, damit sein Glaube nicht aufhöre. Das Gebet Jesu gegen Petri Glaubensende ist nicht der Beginn einer Transferleistung zwischen zwei ungleichen Partnern, sondern zeigt, wie Fürbitte zum personalen Beziehungsgeschehen und gerade darin hochwirksam wird.

Es ist gut zu wissen, dass Jesus für Petrus gebetet hat. Das Gebet wirkt weiter. Es stärkt und hält die Jüngerinnen und Jünger, Zeuginnen und Zeugen Christi aller Zeiten. Das sind nach lutherischem Verständnis alle Getauften.

Wenn man sich die Glaubensbiographie Simon Petri ansieht, die durch die nachfolgenden Verleugnungen im Hof des hohepriesterlichen Palastes die schärfsten Konturen erhält, dann kann man froh und dankbar werden, dass für solche Leute in Gottes Reich Platz ist. Das begründet die Hoffnung, dass nicht unsere Ansicht über unseren geistlichen Dienst entscheidend ist, sondern das Ansehen, das wir bei Christus haben. Das kann unser Verhältnis untereinander sehr entspannen. 

Die zunächst fremde Jahreslosung empfinde ich je länger je intensiver als einen heilsamen Zwischenruf. Als Kirche sind wir in diesen Jahren stark mit Binnenoptimierung beschäftigt. Wir müssen uns weiter auf sich rasant verändernde Situationen, auf zurückgehende Einnahmen, auf weniger Gemeindeglieder usw. einstellen. Binnenoptimierung ist aber nicht unser erster Auftrag; der ist auf Außenorientierung, auf die Ausbreitung des Evangeliums gerichtet. Ich bin sicher, dass uns dies auch unter widrigen Umständen gelingen wird, wenn wir nur konsequent genug nach Organisationsformen suchen, die Glauben und sein Wachstum begünstigen. Manchmal frage ich mich allerdings, ob die sehr intensive Beteiligungskultur, die wir eingepflegt haben, uns wirklich der Akzeptanz einschneidender Eingriffe näher bringt. „Schöner Streichen” kann ein Motto für die Wohnungsgestaltung sein, als Kirche macht es uns nicht attraktiver. Selbst diejenigen, die am Zustandekommen schmerzhafter Beschlüsse beteiligt waren, tragen ihre Folgen schließlich nicht mit Freude. Erfolge haben am Ende viele Väter, aber Niederlagen - und so werden die notwendigen Korrekturen oft gesehen - bleiben Waisenkinder. 

Auch wir in Amelungsborn werden uns nach neuen Geldquellen umsehen müssen. Ich hatte vor einiger Zeit angeregt, über einen Fonds nachzudenken, der uns kulturell handlungsfähig machen könnte. Heute muss ich sagen, dass dies nicht reichen  wird, wir werden uns nicht dauerhaft auf die zentrale Alimentierung verlassen können, sondern müssen selbst Mittel einwerben. Unter uns und von Dritten. Es geht nicht mehr nur um kulturelle Handlungsfähigkeit, sondern um materiell substantielle, denn die geistliche Handlungsfähigkeit ist uns von Christus und durch Kloster und klösterliche Gemeinschaft ohnehin geschenkt worden.

Geb’s Gott, dass das Gebet Jesu auch der Kirche als Ganzer gilt, damit der Glaube und seine Verbreitung nicht aufhöre oder in die Randlage gerät. Ich habe am 1. Advent 2004 in einer Gemeinde gepredigt, die nach über 600 Jahren ihre Pfarrstelle verliert. Da ist viel Trauerarbeit zu leisten, viel Hinhören und sorgfältiges Argumentieren, dass mit der Pfarrstelle der Glaube nicht abwandert.

Ich möchte Gelegenheit nehmen, allen Gliedern der klösterlichen Gemeinschaft von Herzen für ihren Dienst zu danken. Bis auf Frau Arnold und ihre Mitarbeiterinnen sowie Küster Marx und Klosterpfarrer Bartram arbeiten wir alle hier ehrenamtlich. Nach meiner Wahrnehmung wächst das Interesse an der Gemeinschaft und ihren Einrichtungen, am Klostergarten, an der Kirchenpädagogik, am Frauenkreis, an der Familiaritas, am Konvent, am Kloster als Tagungsstätte und Pilgerherberge, am Kloster als Kirchort und musikalischer Aufführungsstätte – und zwar analog zu unserer Gastfreundschaft. In meinen Dank schließe ich gern die Kirchenvorstände und Pfarrleute der Klostergemeinden ein.

Das Interesse am Kloster wächst. Es wäre sehr hilfreich, wenn wir das Jahresprogramm des Folgejahres schon im Herbst des laufenden Jahres fertig stellen könnten. Das zwänge uns dann auch dazu, konzeptionell noch einmal nachzudenken, welche Menschen wir einladen erreichen wollen, welche Veranstaltungen wir anbieten, welche Themen wir bedenken, welche Konzerte wir hereinbitten wollen.

Auch die jüngsten Kirchentagserfahrungen weisen dieses wachsende Interesse aus. Ich zitiere aus der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 2. Juni: „Kirchentag 1983 in Hannover, das evangelische Kloster Amelungsborn lädt ein. Kaum einer kommt. Kirchentag 2005, selbe Stadt, selbes Kloster, selbe Einladung. Es gibt viel mehr Anmeldungen als Plätze. „Der Bus mit Kirchentagsbesuchern“, jubiliert die Pressestelle, „platzte buchstäblich aus allen Nähten.“

Das war schon ein beglückendes Zusammentreffen, eine exzellente Vorbereitung, eine Höchstleistung der Küche, plötzlich 108 Menschen zu versorgen, allen, die vorbereitet und mitgewirkt haben, gilt ein herzlicher Dank. Auch den Schwestern und Brüdern, die in der Halle der Spiritualität Dienst getan haben. Ich war jeden Tag dort und habe mich davon überzeugt, dass Ihr dort keine Ruhe hattet. Ich weiß es auch durch meine Mitarbeit im Ratsauschuss der EKD, dass die von Luther beschriebene dritte Art „derer, die mit Ernst Christen sein wollen“ an Attraktivität zunimmt. Davon ein ander Mal mehr.

Ich würde bei aller Freude jedoch noch nicht so weit gehen, wie der Autor des ZEIT-Artikels, der nach der Beschreibung ganz unterschiedlicher Aktivitäten auf dem Markt der Möglichkeiten folgenden Schluss zieht: „Doch das sind die üblichen Malaisen demonstrativer Pluralität. Den Eindruck von der Wiederkehr des Glaubens, auch von der Wiederkehr des Protestantismus, trüben sie nicht.“

Ich bin deshalb mit meinem Optimismus zurückhaltender, weil ich vor dem Kirchentag nicht so pessimistisch gestimmt war. Ich denke nur, dass wir zur Beurteilung der Situation der Christen und Kirchen in unserer Gesellschaft mehr und stabilere Indikatoren brauchen, als den außergewöhnlich positiven Kirchentag in Hannover. Darüber würde ich gern ins Gespräch kommen.

Amelungsborn hat einen ausschließlich geistlichen Auftrag, dem entspricht die Ordnung des Klosters. Wir kennen A und O: Auftrag und Ordnung. Ein ganz deutlicher Vorteil, wie ich kürzlich in Riddagshausen erfahren habe. Unsere Filialgründung überlegt, eine Familiaritas zu installieren, einige möchten den Konvent wiederbeleben, was aber nach Lage der Dinge nicht so einfach ist, weil die kleine Gruppe, die es sich vorgenommen hat, von ganz unterschiedlichen Erfahrungen herkommt und zu ganz unterschiedlichen Zielen unterwegs ist. Da wird es sicher auch Verletzungen durch Richtungsentscheidungen geben müssen. Ich habe bei der Diskussion in Riddagshausen gespürt, wie gut wir dran sind, Auftrag und Ordnung zu haben. Amelungsborn erfüllt einen landeskirchlichen Auftrag. Riddagshausen arbeitet ohne Auftrag auf der Suche nach einer Ordnung. Und die Landeskirche fragt sich, wozu brauchen wir so etwas wie einen Konvent?   

So wenig sich Glaube Nützlichkeitsüberlegungen stellt, sondern auf Selbstevidenz ausgerichtet bleiben muss, so wenig lassen sich geistliche Gemeinschaften und ihr Dienst durch Nützlichkeit allein begründen. Ich möchte zwischen der Nützlichkeit für die Kirche und dem Nutzen für das Reich Gottes gern noch unterscheiden, gleichwohl ohne Gott vorschreiben zu wollen, mit wessen Hilfe er seinen Acker düngen könnte.

Lebensbegleitung kann ja nicht allein bedeuten, lediglich den status quo einer Existenz zu erhalten, sonst geht der Bekehrungs- und Umkehraspekt verloren. Menschen suchen nach Selbsttranszendenz, nach dem Überschreiten der eigenen Möglichkeiten, nicht allein nach deren Erhalt.

Ich sehe eine größere Bereitschaft bei Menschen, diese Lebensveränderung anzunehmen, als es analog in unserer Verkündigung zum Thema gemacht wird. Es ist ja nicht nur der starke Glaube, der nicht aufhören soll, sondern gerade der schwache, unbeholfene, vergessene oder vergessen geglaubte Glaube, der belebt werden will. Bei vielen meiner Gesprächspartner, die ihr Brot nicht „bei Kirchens” verdienen, wächst die Einsicht in die eigene spirituelle Unterernährung. Selbst die Vermittlung elementaren lexikalischen Wissens über den Glauben - so etwas wie Tür-und-Angel-Katechese - trifft auf wachsendes Interesse. Die Bereitschaft zu hören nimmt zu und ist - so vermute ich - schon mehr als gleichauf mit der Bereitschaft, „aufzuhören”. 

Ich möchte ein Problem anzeigen, dem wir uns stellen müssen: Immer mehr Anfragen gehen bei der Klosterverwaltung und mir nach persönlicher Begleitung ein, gerade jüngst wieder von der nordrhein-westfälischen Polizei zur Begleitung von Beamten und Ehepartnern in posttraumatischen Situationen. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass wir einen Spiritual des Klosters hier installieren können, eine Dauerpräsenz errichten. Nun ist die Frage: Schaffen wir es, phasenweise Präsenzzeiten anzubieten und ehrenamtlich abzudecken? Wir sollten wenigstens den Versuch unternehmen.

Aber auch diese offene Frage ist kein Grund zum Jammern, sondern eine neue Herausforderung. Wie ich überhaupt finde, dass es kategorial zu hoch gegriffen ist, unsere kirchliche Situation als „Wüstenerfahrung” zu beschreiben. Ich sehe uns in einer längeren finanziellen und strukturellen Fastenzeit. Deren besondere Chance liegt darin, sich auf das Notwendige zu konzentrieren. Und wer von Konzentration spricht, der muss auch das Zentrum nennen: Christus.

Keiner von uns hat sich diese Situation herbeigewünscht. Aber nun ist sie da und unsere Generation muss und wird sie gestalten. Mit der Wüstenerfahrung verbindet uns allerdings die Notwendigkeit, das Ziel zu kennen, zu dem wir unterwegs sind. Nach aller biblischen Lektüre ist es das Reich Gottes. Geb’s Gott, dass wir nicht zu viel Zeit und Kraft darauf verwenden, uns über die Sozialform und Moral der Wandergruppe, die Verpflegungsleistung der Mitreisenden und das Wohlbefinden der Reiseleiter zu streiten. Bemerkenswerterweise wächst und gedeiht Glaube andernorts in der Welt ohne die meisten unserer Zuwendungen.  

Christus spricht: Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre.

Christus betet für die Gottlosen. Damit der Glaube nicht aufhört.

Denn Glaube ist ein Wert in sich. Er wird nicht erst durch Ethik „aktiviert” und nicht durch das Fehlen von Ethik relativiert. Das wiederum relativiert manche andere Haltung und Handlung derer, für die Christus bei Gott ein gutes Wort einlegt.

Bekehrung erscheint als ein zukünftiges, ein noch im Gang befindliches Geschehen, das sich deutlich von der Berufung unterscheidet.

Dass Christus für Leute wie uns bei Gott Partei ergreift, lässt einen wundern, staunen, freuen. Und es ruft in Erinnerung, dass Parteinahme kein verborgener jenseitiger Akt ist, sondern Erweis für die Diesseitigkeit der Liebe des Herrn.

Christusnachfolge zeigt sich dann auch darin, dass wir ihn für andere Menschen um Glauben bitten - um Glauben an Jesus Christus zu beten, dass er nicht aufhöre, sondern einen neuen Anfang nimmt.

In der Stunde Null des Glaubens sind sich Fromme und Ferne zum Verwechseln ähnlich. Die Stunde Null des Frommen ist - siehe Petrus - nur das Ende der alten Furcht, als Versager bei Gott keine Chance zu haben. In Wahrheit ist sie dem Anfang der Bekehrung, die auch wir nötig haben, näher, als wir es für möglich halten.


 Anmerkungen und Zitate



[1]  Lukas 22,24ff            Gespräche mit den Jüngern               

24 Es erhob sich auch ein Streit unter ihnen, wer von ihnen als der Größte gelten solle.

25 Er aber sprach zu ihnen: Die Könige herrschen über ihre Völker, und ihre Machthaber lassen sich Wohltäter nennen.

26 Ihr aber nicht so! Sondern der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste und der Vornehmste wie ein Diener.

27 Denn wer ist größer: der zu Tisch sitzt oder der dient? Ist's nicht der, der zu Tisch sitzt? Ich aber bin unter euch wie ein Diener.

28 Ihr aber seid's, die ihr ausgeharrt habt bei mir in meinen Anfechtungen.

29 Und ich will euch das Reich zueignen, wie mir's mein Vater zugeeignet hat,

30 daß ihr essen und trinken sollt an meinem Tisch in meinem Reich und sitzen auf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels.

31 Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen.

32 Ich aber habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dereinst dich bekehrst, so stärke deine Brüder.

33 Er aber sprach zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen.

34 Er aber sprach: Petrus, ich sage dir: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, daß du mich kennst.

35 Und er sprach zu ihnen: Als ich euch ausgesandt habe ohne Geldbeutel, ohne Tasche und ohne Schuhe, habt ihr da je Mangel gehabt? Sie sprachen: Niemals.

36 Da sprach er zu ihnen: Aber nun, wer einen Geldbeutel hat, der nehme ihn, desgleichen auch die Tasche, und wer's nicht hat, verkaufe seinen Mantel und kaufe ein Schwert.

37 Denn ich sage euch: Es muß das an mir vollendet werden, was geschrieben steht (Jesaja 53,12): »Er ist zu den Übeltätern gerechnet worden. « Denn was von mir geschrieben ist, das wird vollendet.

38 Sie sprachen aber: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter. Er aber sprach zu ihnen: Es ist genug.


[2]  Martin Luther

Darüber hinaus will ich dir anzeigen eine rechte Weise, in der Theologie zu studieren – denn ich habe mich geübt. Wenn du dieselbe hältst, sollst du so gelehrt werden, dass du selbst ebenso gute Bücher machen könntest (wenn es not wäre) wie die Väter und Konzilien. Wie ich mich (in Gott) auch zu vermessen und ohne Hochmut und Lüge zu rühmen wage, dass ich etlichen der Väter wollte nicht viel nachstehen, wenn es sollte Büchermachen gelten. Des Lebens kann ich mich bei weitem nicht ebenso rühmen. Und zwar ist es die Weise, die der heilige König David im 119. Psalm lehrt (und ohne Zweifel auch alle Patriarchen und Propheten gehalten haben). Darin wirst du drei Regeln finden, durch den ganzen Psalm reichlich vorgestellt. Und heißen so: Oratio, Meditatio, Tentatio.

Erstens sollst du wissen, dass die heilige Schrift ein solches Buch ist, das die Weisheit aller andern Bücher zur Narrheit macht, weil keines vom ewigen Leben lehrt als dieses allein. Darum sollst du an deinem Sinn und Verstand stracks verzagen. Denn damit wirst du es nicht erlangen, sondern mit solcher Vermessenheit dich selbst und andere mit dir stürzen vom Himmel (wie es Luzifer geschah) in den Abgrund der Hölle. Sondern kniee nieder in deinem Kämmerlein und bitte mit rechter Demut und Ernst zu Gott, dass er dir durch seinen lieben Sohn wolle seinen heiligen Geist geben, der dich erleuchte, leite und Verstand gebe.

Wie du siehst, dass David im oben genannten Psalm immer bittet: „Lehre mich, Herr, unterweise mich, führe mich, zeige mir“ und solcher Worte viel mehr. Obschon er doch den Text des Mose und anderer Bücher mehr gut kannte, auch täglich hörte und las, will er noch dazu den rechten Meister der Schrift selbst haben, auf dass er ja nicht mit der Vernunft drein falle und sein eigener Meister werde. Denn daraus werden Rottengeister, die sich lassen dünken, die Schrift sei ihnen unterworfen und leicht mit ihrer Vernunft zu erreichen, als wäre es Marcolfus oder Aesops Fabeln, wozu sie keines heiligen Geistes noch Betens bedürfen.

Zum andern sollst du meditieren, das ist: nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich die mündliche Rede und im Buch geschriebene Worte immer treiben und reiben, lesen und wiederlesen, mit fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der heilige Geist damit meint. Und hüte dich, dass du nicht überdrüssig werdest oder denkest, du habest es ein Mal oder zwei genug gelesen, gehört und gesagt und verstehest es alles bis auf den Grund. Denn daraus wird nimmermehr ein guter Theologe. Solche sind wie das unzeitige Obst, das abfällt, ehe es halb reif wird.

Darum siehst du in demselben Psalm, wie David immerdar rühmt, er wolle reden, dichten, sagen, singen, hören, lesen Tag und Nacht und immerdar, doch nichts als allein von Gottes Wort und Geboten. Denn Gott will dir seinen Geist nicht geben ohne das äußerliche Wort. Danach richte dich. Denn er hat es nicht vergeblich befohlen, äußerlich zu schreiben, predigen, lesen, hören, singen, sagen, usw.

Zum dritten ist da Tentatio, Anfechtung. Die ist der Prüfstein, die lehrt dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfahren, wie recht, wie wahrhaftig, wie süß, wie lieblich, wie mächtig, wie tröstlich Gottes Wort sei, Weisheit über alle Weisheit.

Darum sieht du, wie David in dem genannten Psalm so oft klagt über allerlei Feinde, frevle Fürsten oder Tyrannen, über falsche Geister und Rotten, die er deshalb leiden muss, weil er meditiert, das ist: mit Gottes Wort umgehet (wie gesagt) auf allerlei Weise. Denn sobald Gottes Wort aufgeht durch dich, so wird dich der Teufel heimsuchen, dich zum rechten Doktor machen und durch seine Anfechtungen lehren, Gottes Wort zu suchen und zu lieben. Denn ich selber (damit ich Mäusedreck auch mich unter den Pfeffer menge) habe sehr viel meinen Papisten zu danken, dass sie mich durch des Teufels Toben so zerschlagen, zerdrängt und zerängstet, das ist, einen rechten, guten Theologen gemacht haben, wohin ich sonst nicht gekommen wäre. Und was sie dagegen an mir gewonnen haben, da gönne ich ihnen die Ehre, Sieg und Triumph herzlich wohl. Denn so wollten sie es haben.

Siehe, da hast du Davids Regel: Studierst du nun gut diesem Exempel nach, so wirst du mit ihm auch singen und rühmen in demselben Psalm: „Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber denn viel tausend Stück Goldes und Silbers.“ (Ps. 119,72) Ebenso: „Du machst mich mit deinem Gebot weiser, als meine Feinde sind; denn es ist ewiglich mein Schatz. Ich bin gelehrter denn alle meine Lehrer; denn deine Zeugnisse sind meine Rede. Ich bin klüger als die Alten; denn ich halte deine Befehle“ (Ps. 119,98-100) usw. Und wirst erfahren, wie schal und faul dir der Väter Bücher schmecken werden. Wirst auch nicht allein der Widersacher Bücher verachten, sondern dir selbst in beidem, im Schreiben und Lehren, je länger je weniger gefallen. Wenn du hierher gekommen bist, so hoffe getrost, du habest angefangen, ein rechter Theologe zu werden, der du nicht allein die jungen unvollkommenen Christen, sondern auch die zunehmenden und vollkommenen lehren kannst. Denn Christi Kirche hat allerlei Christen in sich: junge, alte, schwache, kranke, gesunde, starke, frische, faule, schlichte, weise, usw.

Fühlst du dich aber und lässt dich dünken, du habest es gewiss, und schmeichelst dir mit deinen eigenen Büchlein, Lehren oder Schreiben, als habest du es sehr köstlich gemacht und trefflich gepredigt, gefällt dir auch sehr, dass man dich vor andern lobe, willst auch vielleicht gelobt sein, sonst würdest du trauern oder nachlassen, - bist du von der Art, Lieber, so greif dir selber an deine Ohren. Und greifst du recht, so wirst du finden ein schön Paar großer, langer, rauher Eselsohren. So wende vollends die Kosten dran und schmücke sie mit güldnen Schellen, auf dass, wo du gehst, man dich hören könnte, mit Fingern auf dich weisen und sagen: Seht, seht, da geht das feine Tier, das so köstliche Bücher schreiben und trefflich wohl predigen kann. Alsdann bist du selig und überselig im Himmelreich. Vielmehr da, wo dem Teufel samt seinen Engeln das höllische Feuer bereitet ist. Summa, lasst uns Ehre suchen und hochmütig sein, wo wir es vermögen. In diesem Buch ist Gottes die Ehre allein, und es heißt: „Gott widersteht der Hoffärtigen, den Demütigen aber gibt er Gnade.“ (1. Petr. 5,5) Ihm sei Ehre in alle Ewigkeit. Amen.

Martin Luther: Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner deutschen Schriften 1539


[3]  Wilfried Härle: „Den Mantel weit ausbreiten - Theologische Überlegungen zum Gebet”; Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie; Bd. 33/ 1991, S. 231 ff

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