Der Sündenfall

als Kapitellbandzier im Hohen Chor der Klosterkirche (1. Mose 3, 1 f.)

Während im romanischen Teil der Klosterkirche die fast schmucklosen Scheibenwürfelkapitelle der Säulen noch ganz der frühen asketischen Kunstauffassung der Zisterzienser entsprechen, baute man in den um die Mitte des 14. Jahrhunderts errichteten gotischen Chor eine glatte, achteckige Stützenform ein, die Kapitellbänder mit floralen und figürlichen Darstellungen aus dem mittelalterlichen Symbolkanon schmücken.
Im Gegensatz zu romanischen Vorbildern, deren Bildprogramme oft mehr oder weniger plastisch-konstitutiv den Kapitellkorpus bilden, sind diese in Amelungsborn in lockerer Folge den acht Bandfeldern des glatten Pfeilerkorpus aufgesetzt. Doch Thematik, Stilistik, Anordnung und Haltung der Figuren werden noch ganz den romanischen Vorbildern nachempfunden. Besondere Aufmerksamkeit verdient hier die Darstellung des Sündenfalls an der den Levitenstuhl östlich berührenden Stütze, ein häufiges Thema der Bildprogramme mittelalterlicher Kapitelle und Archivolten.
Das nach Süden weisende Feld des Bandes füllt ein knorriger Apfelstamm mit wenigen blatt- und fruchttragenden Ästen, der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, um den sich eine Schlange windet. Von den links und rechts sich abgeknickt anschließenden Feldern gehen Eva und Adam auf den Baum zu. Beide sind unbekleidet. Evas Haar ist im Nacken zu einem langen Zopf zusammengefasst, Adam trägt wallendes, schulterlanges Haupthaar. In den erhobenen Händen halten sie den verbotenen Apfel. Der gleiche Baum wird auf der Gegenseite von zwei Drachen, Sinnbildern des teuflisch Bösen, bewacht, zum Baum des Todes, wo ihn die betenden Mönche ständig mahnend vor Augen haben.
Angesichts ihres christlichen Missionsauftrags in einer Zeit nur zögerlich sich ausbreitender Alphabetisierung, war die christliche Symbolik als pädagogisches Werkzeug in der religiösen Unterweisung und Lehre vom Sinn des Glaubens und seiner Mysterien zu verstehen. Sie diente der alten Kirche zugleich zur Darstellung ihrer Dogmen und Bewahrung der Reinheit ihrer Lehre.
Das Amelungsborner Kapitellband lehrt: durch Adam und Eva kamen Sünde und Tod in die Welt, weil sie sich von der Schlange verführen ließen, die verbotenen Früchte des im Garten Eden gepflanzten Baumes der Erkenntnis zu pflücken.
Erst Christus brachte Erlösung und Hoffnung auf das ewige Leben, indem er die Sünden der Welt auf sich nahm.
H.W. Göhmann, 2001

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