Amelungsborner Dachreiter

Zu dem von den mittelalterlichen Zisterziensern angestrebten Ideal der religiösen Vertiefung gehörte eine gewollte Einfachheit in allen Lebensbereichen, die in der Schlichtheit der Klostergebäude und ihrer Einrichtungen und nicht zuletzt einer ordenstypischen Architektur nach dem Vorbild von Citeaux deutlich wurde. So heißt es in den Bauvorschriften des Generalkapitels von 1157 unter anderem: Turres lapideae ad Campanes non fiant - Steinerne Glockentürme sollen nicht gebaut werden! Erst seit dem 13. Jahrhundert wurden einzelne hölzerne Dachreiter auf den Dachfirsten sonst turmloser Zisterzienserkirchen, später auch auf den Kirchen der Bettelorden, üblich. Sie waren mit dem jeweiligen Dachdeckungsmaterial verkleidet und mit einer kleinen Betglocke bestückt.

Sicher wurden auch in Amelungsborn Glocken zu liturgischen und anderen Zwecken geläutet, aber über Art und Anbringung gibt es für die Mönchszeit keine überlieferten Hinweise. Den ersten bekannten Dachreiter verdankte das Kloster dem zweiten nachreformatorischen Abt Vitus Buchius (1588-1598), von dem das Amelungsborner Nekrologium unter dem 7. Juni vermerkt: Ao 1598 obiit Vitus abbas qui templi turrim aedificari fecit ...starb Abt Vitus, der den Turm der Kirche erbaut hat. Es war ein spitz aufragendes, achteckiges Türmchen mit Helmlaterne, das auf dem Amelungsborn-Kupfer in der Merian’schen Braunschweig-Lüneburgischen Topographia von 1654 sehr realistisch abgebildet ist. Weniger detailliert ist es noch einmal im Hintergrund des Blattes von Deensen im gleichen Werk zu sehen. Der Dachreiter konnte den 30jährigen Krieg unbeschadet überstehen, wurde aber kurz darauf ein Raub der Flammen. Abt Herbert Rudolphi (1676-1684) ließ ihn dann 1684 von Poller Zimmerleuten durch einen barock geschweiften Helm mit Laterne ersetzen, der mit seiner grauen Bleiverkleidung in auffälligem Kontrast zum rötlichen Sandsteindach der Klosterkirche stand. Als infolge unsachgemäßer Umbau- und Erhaltungsmaßnahmen früherer Zeit Sanierungsarbeiten an tragenden Säulen und dem Balkenwerk über der Vierung der Klosterkirche notwendig wurden, musste nach 323 Jahren im Dezember 2007 der barocke Dachreiter samt Glocken abgehoben werden.

Die Silhouette der Klosterkirche, ein charakteristisches Erscheinungsbild im Zentrum des Landkreises Holzminden, ist auf unbestimmte Zeit verschwunden.

Herbert W. Göhmann 2008

Nach oben