Kapitellbandzier im Hohen Chor der Klosterkirche

Wo die Gewölberippen und Arkaden im gotischen Chor auf den   Oktogonalpfeilern aufsitzen, markieren anstelle ausgeprägter Kapitelle  Ornamentfriese mit figürlichen und vegetabilen Darstellungen den Übergang von Stütze und Last. Darunter befinden sich seltsame Geschöpfe und Mischwesen mit menschlichen und/oder tierischen Zügen. Sie waren nicht nur Schmuck zur Ehre Gottes, sondern für den mittelalterlichen Betrachter auch Bedeutungsträger mit einer heute weitgehend verloren gegangenen magischen Aussagekraft, die durch Motivverdoppelungen noch verstärkt werden konnte. In ihrer Symbolsprache gaben sie Hinweise auf das Wirken Gottes in der von ihm gesetzten Welt- und Erlösungsordnung; sie erregten die Phantasie und führten in eine Bilderwelt, die im Verein mit anderen Darstellungen, etwa auf den Bildglasfenstern, die Mönche täglich zu belehren, trösten,  stärken vermochte, sie aber auch vor den Mächten des Bösen und der  Versuchung warnen wollte. - Die Darstellung des Sündenfalls unter  dem lebendigen Baum (vgl. AM 2. Folge) an der mittleren südlichen  Säule ermahnte die betenden Mönche, sich in einer unheiligen Welt im  Kampf zwischen Gut und Böse nicht das ewige Heil zu verscherzen, wenn der Teufel versuchte, sie unter seine Herrschaft zu zwingen. Ubique daemon! Ein am selben Kapitellband dem Mönchschor zuge­wandtes hundsköpfiges Drachenpaar mit spitzen Ohren, Krallenfüßen und mächtigen, an den gespaltenen Enden verschlungenen Schwänzen  unterstreicht das. Seine Vogelflügel lassen gefallene Engel erkennen. So auch mehrere kleinere Dämonen an anderen Säulen, die ihre Opfer  mit kapuzenbedeckten Mönchsköpfen zu täuschen versuchen. – Da  richtet ein nackter Wilder Mann seine Lanze, ein Werkzeug der göttli­chen Gerechtigkeit, auf eine zottig behaarte Gestalt, die wie ihr Gegen­stück in das Blattwerk des „silva daemonorum", den Wald als dem  bevorzugten Aufenthaltsort alles Bösen zu flüchten versucht. An ande­rer Stelle schleicht ein keulenbewehrtes Männchen davon. Sind   aufgerichtete Löwen zwischen Dämonen Symbole des siegreichen Christus oder lauernde Bedrohungen, vor denen man sich hüten muss?  All das, auch die Akanthus-Ornamente, die in zahlreichen Formen  ganze Friese schmücken, erschweren wegen ihrer variablen   Deutungsmöglichkeiten das beabsichtigte Verständnis bei heutigen  Betrachtern.

H.W. Göhmann 2006

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