Ostung und Achsenknick der Klosterkirche

Ostung und Achsenknick der Klosterkirche
Ostung und Achsenknick der Klosterkirche

Wegen der Bedeutung des Ostens als Ort der aufgehenden Sonne für das christliche Glaubensverständnis wurden schon in frühchristlicher Zeit Kirche, Altar und Apsis nach Osten ausgerichtet. In dieser sogenannten Ostung drückte sich die Hinwendung zu Christus als dem Licht des Heils aus.

Von Rom aus gesehen wurde Christus (sol salutis) im Osten geboren, dort lebte, lehrte und starb er am Kreuz; fuhr er gen Himmel und wird von dort dereinst wiederkommen, und nach Osten werden die Gerechten dereinst zu Christus ins Paradies heimgehen.

Schon bald verband sich im Mittelalter mit der Ostung eine Kreuzessymbolik, richtet doch der im Osten der Kirche aufgestellte Gekreuzigte seinen Gnade spendenden Blick nach Westen auf das Kirchenvolk, wo es auch dereinst das Letzte Gericht erwartet.

Auch die Amelungsborner Klosterkirche ist in bei den Bauabschnitten geostet, wenn auch mit unterschiedlichen Gradabweichungen von der erdmagnetischen West-Ost-Ausrichtung. Diese an alten Kirchen und Kapellen nicht selten anzutreffenden ungenauen Ostungen können nach Meinung von Experten verschiedene Ursachen haben, z.B. die Ausrichtung der Gebäudeachse an den Tag- und Nachtgleichen (Äquinoktien 21.3. bzw. 23.9.) statt des Sonnenaufgangs, an den Sonnenwendtag (21.6.) oder den Geburtstag (Natalie) des entsprechenden Kirchenpatrons. Genauere Messungen waren bis ins Hochmittelalter nicht möglich, da die heute übliche Form des Kompass, der allerdings eine Zeitlang noch sehr ungenau funktionierte, erst im 13. Jahrhundert von italienischen Seefahrern erfunden wurde.

Nun weist die Amelungsborner Klosterkirche einen in vielen deutschen mittelalterlichen Kirchen zu beobachtenden Knick der Längsachse auf. Solche schwer zu deutenden Unregelmäßigkeiten, die meist nach Norden, seltener nach Süden zeigen, werden nicht nur von neuzeitlichen Historikern, sondern schon von mittelalterlichen Liturgikern mit der Kreuzessymbolik der Gebäude in Beziehung gebracht und als Bild des Gekreuzigten gedeutet, wie er im Sterben sein Haupt zur Seite neigt. Andererseits könnten auch technische Probleme, wie die genannten Unzulänglichkeiten des Messwesens oder Geländeanomalien, besonders bei Um- und Anbauten, eine Rolle spielen.

Da die gleichen Boden- und Geländeverhältnisse für die konsekutiven Bauabschnitte der Klosterkirche keine Notwendigkeit für eine Achsenverschiebung erkennen lassen, auch die Vermessungstechnik bis ins Hochmittelalter nicht wesentlich perfektioniert wurde, erhärtet sich die Vermutung, dass der Achsenknick als künstlerischer und liturgischer Ausdruck und Memento bernhardinischer Frömmigkeit gedacht war.

H.W. Göhmann, 2003

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