Schweigen - Annäherungen an ein monastisches Thema

von Heinrich Holze (Rostock)

(Dr. theol. Heinrich Holze ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Rostock. Er hielt diesen Vortrag der am Kapiteltag 2012 versammelten klösterlichen Familie Amelungsborns)

Benedikt: Schweigen als klösterliche Gehorsamstugend

Ich beginne den Rundgang durch die Geschichte der monastischen Tradition mit der Regula Benedicti, dem wichtigsten Text des abendländischen Mönchtums. Unzählige Klöster haben ihn als Lebensregel übernommen. Grundlegend ist das 6. Kapitel, das von der Schweigsamkeit handelt. Benedikt eröffnet seine Überlegungen mit einem Zitat aus Ps 39, das er mit einigen deutenden Worten einrahmt: „Wir wollen tun, was der Prophet sagt: ,Ich sagte: Ich will auf meine Wege achten, damit ich nicht sündige mit meiner Zunge. Ich stellte an meinen Mund eine Wache. Ich verstummte, verdemütigte mich und schwieg vom Guten.‘ Hier gibt der Prophet zu verstehen, dass man der Schweigsamkeit zuliebe bisweilen sogar von guter Rede lassen soll; umso mehr muss man dann wegen der Sündenstrafe das böse Reden vermeiden.“ (Die Benedictusregel, hg. v. Basilius Steidle, Beuron 1980 = RB 6,1f.)

Schweigen - das ist für den Mönchsvater vom Monte Cassino also eine Verhaltensweise, die er vom Bußsakrament her deutet. Das Reden fällt in den Bereich der Sünde, das Schweigen aber ist ein Ausdruck für die Abkehr von ihr. Im klösterlichen Leben wird das Schweigen insbesondere gegenüber dem Abt als „Stellvertreter Christi“ eingeübt. Ihm gehört das Wort, dem Mönch aber das Schweigen. Benedikt bezieht sich bei diesen Gedanken auf die Magisterregel, der wichtigsten Quelle seiner Regel. Dort heißt es im 8. Kapitel: „Wegen des Ernstes der Schweigsamkeit soll selbst zu guten, heiligen und erbaulichen Reden den vollkommenen Schülern nur selten Erlaubnis gegeben werden. Doch was anderes Reden angeht, sollen die Brüder, die nicht gefragt sind, solange in Schweigsamkeit schweigen, bis die Zügel ihres stummen Mundes durch das Fragen des Abtes gelockert werden. Die Schweigsamkeit muss deshalb von den Brüdern so sehr beachtet werden, weil man beim vielen Reden der Sünde nicht entgeht und weil deshalb Tod und Leben in der Gewalt der Zunge liegen.“ (Die Magisterregel, hg. v. Karl Suso Frank, St. Ottilien, 122) Auch für den Magister gilt also: Wer redet, steht in der Gefahr, das Wort zu missbrauchen. Das gesprochene Wort ist zweideutig. Der Mönch hat darum zu schweigen. In der Benediktsregel wird ihm gesagt: „Reden und Lehren kommt dem Meister zu, Schweigen und Hören ist Sache des Jüngers.“ (RB 6,6) Darin klingt die gegenüber Christus einzunehmende Haltung des Hörens an, die in der klösterlichen Gemeinschaft gegenüber dem Abt eine konkrete Gestalt annimmt. Der Abt ist der Stellvertreter Christi („vicarius Christi“), und daher hat das Schweigen, das dem Mönch aufgetragen ist, eine disziplinarische Funktion (RB 1,12; 4,52; 38,5; 42,1; 67,5). 

Es ist kein Zufall, dass Benedikt in den Stundengebeten keine Schweigezeiten kennt. Die Liturgie wird von Lesungen und Psalmengesängen bestimmt. In jeder Woche soll der Psalter einmal ungekürzt gesungen werden, denn, so schreibt Benedikt mahnend, die Väter hätten das sogar an einem einzigen Tag vollbracht. Nicht im Gottesdienst, sondern erst nach dessen Ende ist das Schweigen geboten. Die Regel begründet es mit den Worten: „Nach dem Gottesdienst gehen alle in tiefstem Schweigen hinaus; so wird Gott die schuldige Ehrfurcht erwiesen.“ (RB 52,2). Dass auch dieser Gedanke nicht frei ist von disziplinarischen Kategorien, deutet Benedikt an, wenn er schreibt: „Findet sich einer, der diese Regel des Stillschweigens übertritt, so verfalle er schwerer Strafe.“ (RB 42,8f.) Aus einem anderen Grund wird das Schweigen beim Gebet des Einzelnen angemahnt: "Wenn einer außerhalb des Stundengebetes still für sich beten will, der trete in das Oratorium ein und bete, nicht mit lauter Stimme, sondern unter Tränen und mit Inbrunst des Herzens." (RB 52,4) In diesem Zusammenhang markiert die Aufforderung zum Schweigen eine Abgrenzung in der monastischen Gebetspraxis zum Ausdruck. Zu den Stundengebeten der Gemeinschaft, in denen der Psalter gesungen wird, verhält sich das stille Gebet des Einzelnen als eine mögliche, aber nicht notwendige persönliche Vertiefung.

Überblicken wir die verschiedenen Hinweise in der Regel, so fällt auf, dass das Schweigen im benediktinischen Kloster vor allem eine regulierende Funktion hat. Das klingt bereits in den ersten Worten an, wenn es heißt: "Höre, mein Sohn, auf die Lehre des Meisters und neige das Ohr deines Herzens; nimm die Mahnung des gütigen Vaters willig an und erfülle sie durch die Tat." (RB Prolog 1) Im weiteren Fortgang des Prologs wird deutlich, dass damit die Weisungen des Abtes gemeint sind, in denen der Mönch die Stimme Christi hört (RB Prol. 9, 16, 24, 39; 4,77; 5,5f.15; 64,21). Es ist das auf das Amt des Abtes bezogene Christuswort „Wer euch hört, der hört mich“ (Lk 10,16), das nach Benedikt den klösterlichen Gehorsam begründet, „denn der Gehorsam, den man den Oberen leistet, wird Gott erwiesen.“ (RB 5,6.15). Der Mensch, wie Benedikt ihn uns vor  Augen stellt, ist also in eine hierarchische Lebensordnung gestellt. Im Schweigen findet er seinen gottgewollten Platz und ordnet sich dem Abt unter, in dessen Stimme ihm Christus begegnet (RB 2,2).

Luther: Bekennen statt schweigen

Auf dem Hintergrund dieser benediktinischen Deutung ist es kein Wunder, dass Luther am klösterlichen Schweigen wenig Interesse hatte. Schweigen - das war für ihn der Inbegriff eines unevangelischen Christusverständnisses, das er aus reformatorischer Überzeugung kritisierte. Diese Kritik begegnet uns wiederholt in seinen Schriften. In der großen Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ (1520) deutet Luther das Schweigen als stillschweigendes Einverständnis mit den kirchlichen Missbräuchen: „Da wir schuldig sind, wider den bösen Geist, seine Werke und Worte zu streiten, wie kommen wir denn dazu, dass wir stillhalten und schweigen sollten, wo der Papst oder die Seinen teuflische Worte oder Werke vornehmen? Sollten wir um der Menschen willen göttliches Gebot und Wahrheit zerstören lassen, der wir in der Taufe mit Leib und Leben beizustehen geschworen haben?“ (Kurt Aland, Luther deutsch, Göttingen 1991 = LD 2, 164)  In dem Traktat „Von den guten Werken“ (1520) deutet der Reformator das Schweigen gar als Nichtachtung Gottes: „Was hülfe es doch, so der Mensch allerlei Gutes täte, allen Ablass erwürbe, alle Kirchen und Stifte baute, wo er hier an dem Namen und der Ehre Gottes schuldig erfunden würde, daß er dieselben zum Schweigen gebracht und verlassen, sein Gut, Ehre, Gunst und Freunde größer geachtet hätte als die Wahrheit (die Gottes Namen und Ehre selber ist)?“ (LD 2, 126f.) Wenige Jahre später schreibt Luther im Traktat „Von der Ordnung des Gottesdiensts in der Gemeinde“ (1523): „Große Mißbräuche sind in den Gottesdienst eingedrungen, dadurch dass man Gottes Wort zum Schweigen gebracht hat. Denn nachdem Gottes Wort zum Schweigen gebracht wurde, sind so viele unchristliche Fabeln und Lügen hereingekommen, dass es greulich zu sehen ist.“  (LD 6, 82) Diese Kritik erklärt, warum Luther seine Gegenwart - die Zeit der Wiederentdeckung des Evangeliums - nicht als eine Zeit des Schweigens, sondern des Redens verstand. Jetzt war die Zeit des offenen Zeugnisses, der Predigt des Evangeliums, des Bekenntnisses vor Kaiser und Reich. 

In seiner Psalmenauslegung „Das schöne Confitemini“ (1530) schreibt Luther: „Gott will von uns in seinen Werken und Wundern gelobt, gepriesen, geehrt und bekannt sein, wie denn auch der Glaube tut und nicht still schweigen kann. Er muss das sagen, was er von Gott glaubt, und weiß Gott zu ehren und die Menschen zu lehren, wie Ps.116,10 sagt: „Ich glaube, darum rede ich.“  (LD 7, 341f.) In einer Predigt aus dem Jahre 1533 stellt Luther dem klösterlichen Leben der Mönche das neue Leben des evangelischen Christen gegenüber: „Durch den Glauben an Christus kommen wir zur Vergebung der Sünden; danach soll auch das Bekenntnis folgen, dass wir nicht stumm seien, sondern reden, wie wir es im Herzen glauben. Das macht alsdann einen Christen, alle anderen Werke machen keinen Christen. Das mag wohl sein: ein Mönch fastet und wacht und tut seinem Leibe weher als ein Christ. Aber dadurch kann er kein Christ werden, denn es mangelt ihm daran, dass er noch taub und stumm ist. Das Wort will er nicht hören, viel weniger bekennen. Ein Christ aber, der hört es und glaubt es und bekennt es danach: diese zwei Stücke machen einen Christen vollständig.“ (LD 8, 339-342)

Für Luther gibt es keinen Zweifel: Die Zeit des Schweigens ist zu Ende, begonnen hat die Zeit der Verkündigung des Evangeliums. Freilich geht der Verkündigung das Hören voraus. In seiner Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516), in der wir den Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis verfolgen können, schreibt Luther über die Bedeutung des Hörens: „Mit allem Eifer und ganzer Kraft, die Augen geschlossen und mit aller gebotenen Klugheit auf ein einfaches Hören auszugehen, das also ist es, was das Wort erfordert. Und ob es nun Törichtes oder Böses, ob es Großes oder Kleines vorschreibt, wir wollen es tun und dabei das Werk nach dem Worte beurteilen und nicht das Wort nach dem Werk.“ Wenige Seiten später betont Luther: „Wenn du einen Christen fragst, was nötig sei, um den Namen eines Christen zu verdienen, so wird er dir nur antworten können: das Hören auf Gottes Wort, d.h. der Glaube. Die Ohren sind darum die einzigen Werkzeuge eines Christenmenschen; denn er wird nicht durch die Werke irgendeines seiner anderen Glieder, sondern aus dem Glauben gerechtfertigt und als Christ erkannt.“ (LD 1, 222,225,328) Vom Schweigen ist in Luthers Römerbriefauslegung also nicht mehr die Rede, wohl aber davon, dass es gilt, das Wort Gottes hörend - also nicht aus eigener Leistung und eigenem Vermögen - zu empfangen.

Gleichwohl war es ihm als ehemaligem Augustinermönch keineswegs fremd, dem eigenen Worte zu entsagen, um sich dem Schweigen und der monastischen Stille hinzugeben. Die Praxis des Schweigens gehörte zu seinem täglichen Leben. Wir hören davon in einem Brief, den er an seinen Beichtvater Johannes von Staupitz im Februar 1519 geschrieben hat: „Obwohl Du sehr fern von uns bist, wollen doch wir das Schweigen brechen... Gott reisst und treibt mich viel mehr, als dass er mich führt. Ich bin meiner nicht mächtig: ich will in Stille leben und werde mitten in die Stürme hineingerissen.“ (LD 10, 57) Dieser Brief entstand, als der kanonische Prozess bereits eröffnet worden war und Luther sich ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gestellt sah. Trotz alledem lebte er aber noch im Kloster, und natürlich war ihm der Zusammenhang zwischen dem monastischen Schweigen und der kirchlichen Buße bekannt. Sechs Jahre später schreibt er in seiner Schrift über „Die Sieben Bußpsalmen“ (1525): „Die mir übel wollen, reden und dichten täglich Falschheit. Das heißt: sie greifen mich mit Lügen und falscher Klage an und erdichten Sachen gegen mich, um mich umzubringen. Ich aber muss sein wie ein Tauber, und höre nicht, und wie ein Stummer, der seinen Mund nicht auftut. Das ist: ich muss sie recht haben lassen und stille schweigen wie ein Stock, denn meine Rede und Antwort gilt und hilft nicht. Und muss sein wie einer, der nicht höret, und der keine Widerrede in seinem Munde hat...“ (LD 5, 132) 

An diesen Worten, die wenige Wochen vor Ausbruch des Bauernkrieges geschrieben wurden, lässt sich ohne Mühe zeigen, dass sie aus einem monastischen Denken erwachsen sind. Tatsächlich hat Luther Zeit seines Lebens seine Wertschätzung des klösterlichen Lebens nicht abgelegt. Wir haben über „Martin Luthers Lebensgang als Mönch“ den Aufsatz von Ulrich Köpf, den der Tübinger Kirchenhistoriker für die Festschrift zum 850. Jubiläum des Klosters Amelungsborn verfasst hat (Kloster Amelungsborn 1135-1985, hg. Gerhard Ruhbach, Amelungsborn 1985, 187-208). Darin zeigt Köpf, dass Luther auch als Reformator aus seinem Mönchsein verstanden werden muss. Selbst seine berühmte Schrift über die Mönchsgelübde, in der er seine grundsätzliche Kritik am Klosterleben formuliert, enthält zahlreiche Stellen, in denen ein positives Urteil durchscheint. Über die klösterliche Lebensform äußert sich Luther in dieser Schrift, die er als Junker Jörg erstmals im weltlichen Stand verfasst hat, durchaus positiv, sofern sie in der Freiheit des Evangeliums geschieht: „Ich will diese Form des Lebens ergreifen, um meinen Leib zu üben, dem Nächsten zu dienen und das Wort Gottes zu meditieren.“ (Otto Clemen, Luthers Werke in Auswahl 2, Bonn 1912, 224) 

Luther hält also durchaus an dem Gedanken fest, das monastische Leben für das Evangelium in den Dienst zu nehmen. Zu diesem Leben gehört aber auch das Schweigen. In seiner „Auslegung des Vaterunsers für die einfältigen Laien“ (1519) verweist er auf die ägyptischen Mönchsväter und bezeichnet sie mit werbenden Worten als Vorbilder eines unverfälschten Herzenglaubens: „So bestimmen alle Lehrer der Schrift, dass das Wesen und die Natur des Gebetes nichts anderes sei als eine Emporhebung des Gemütes oder des Herzens zu Gott... Das beweist auch Hieronymus. Der schreibt von einem heiligen Vater Agathon, dass er in der Wüste jahrelang einen Stein in seinem Mund trug, weil er schweigen lernen wollte. Womit hat er aber gebetet? Ohne Zweifel innerlich mit dem Herzen, woran Gott am meisten liegt und was er auch allein ansieht und sucht.“  (LD 5, 210f.) Dieser Hinweis auf die altägyptische Mönchsüberlieferung ist bemerkenswert. Er zeigt, dass Luther diese Überlieferung nicht nur kannte, sondern auch von ihrer bleibenden Bedeutung überzeugt war. In seinem Vorwort zu den von Georg Major herausgegebenen „Vitae patrum“ (1544) - verfasst zwei Jahre vor seinem Tod - lobt Luther diese Schrift und empfiehlt sie mit warmen Worten zur Lektüre, denn unter ihnen befänden sich „viele herrliche Reden und Taten“. Man solle sie keineswegs verachten, sondern „als Brocken, die von dem evangelischen Tisch abgefallen“ sind, sammeln (D. Martin Luthers Werke 54, Weimar 1928, 111). Warum aber konnte Luther die ägyptischen Anachoreten als Zeugen des Evangeliums bezeichnen? Welche Deutung gaben sie dem Schweigen? 

Mönchsväter: Schweigen und Heilserfahrung

Wenn wir uns den Schriften des ägyptischen Mönchtums nähern, stoßen wir auf einen Überlieferungskomplex, der als „Apophthegmata Patrum“, „Worte der Väter“, bezeichnet wird (Jacques Paul Migne, Patrologia graeca = PG 65, 71-440. Übersetzung in Auswahl: Weisung der Väter, hg. v. Bonifaz Miller, Trier 1980). Er begegnet uns in fast allen Sprachen der orientalischen Antike. Es gibt eine weitverzweigte Textüberlieferung, deren Geschichte sich über mehrere Jahrhunderte erstreckt. Diese Apophthegmata waren außerordentlich populär. Das erklärt sich daraus, dass es sich oft nur um wenige Sätze oder kurze Erzählungen handelt, die wie in der Weisheitsüberlieferung des Alten Testaments oder der Logienüberlieferung des Neuen Testamentes denkwürdige Einsichten, Beobachtungen und Mahnungen enthalten. Zu unserem Thema, dem Schweigen, werden wir in dieser Überlieferung an vielen Stellen fündig.

Beginnen wir mit dem von Luther erwähnten Abbas Agathon, der unter den ägyptischen Anachoreten als ehrwürdige Autorität herausragt. In dem Apophthegma, das Luther wie selbstverständlich zitierte, heißt es: „Man erzählte über den Abbas Agathon: Drei Jahre trug er einen Stein im Munde, bis er zurechtkam mit dem Schweigen.“ (PG 65, 113). Dieses Logion ist typisch für die Gattung der Apophthemata Patrum - es ist kurz und prägnant formuliert, und es enthält eine Pointe, die den, der das Wort hört oder liest, zum Nachdenken herausfordert. In diesem Falle berichtet es von einer Zeichenhandlung des Abbas Agathon. Diese muss gedeutet werden und wird erst im monastischen Lebenskontext verständlich. Sie zeigt, dass das Vermögen zu schweigen keineswegs selbstverständlich ist. Es muss vielmehr dem Leben abgerungen werden. Der Stein im Mund ist der drastische Ausdruck dafür, dass das Schweigen eine asketische Leistung ist, die nur mit großer Kraft erfüllt werden kann. Wie schwer es ist, das Schweigen zu erlernen, zeigt ein anderes Logion, in dem ein Bruder mit der verzweifelten Frage konfrontiert wird: „Was soll ich mit meiner Zunge anfangen - ich kann sie nicht beherrschen?“ Daraufhin entfaltet sich ein kurzer Dialog: „Hast du Ruhe, wenn du redest?“ Der Bruder antwortet: „Nein.“ Darauf gibt der Mönchsvater zu bedenken: „Wenn du keine Ruhe hast, was redest du dann? Schweige also lieber. Und wenn es zu einem Gespräch kommt, dann höre lieber zu, als dass du redest.“ (PG 65, 308)

Abbas Agathon, von dem wir bereits hörten, war da offenbar schon einen Schritt weiter. In einem ihm zugeschriebenen Apophthegma heißt es: „Wenn er etwas sah, und sein Herz über die Sache urteilen wollte, sprach er zu sich: ,Agathon, tu das nicht.‘ Und so kam sein Denken zur Ruhe.“ (PG 65, 113) In seinem Logion zeigt sich unschwer eine Verschärfung des Schweigegebotes. Nicht nur um das gesprochene Wort geht es ihm, sondern auch um das in Gedanken formlierte Wort. Schweigen ist mehr, als nur den Mund zu halten. Agathon ist davon überzeugt, dass es allein in der Zurückgezogenheit der Wüste gelingen kann, der Versuchung zu widerstehen, sich urteilend über den Nächsten zu überheben. Auch in anderen Logien wird die Neigung, andere Menschen zu beurteilen und zu verurteilen, angesprochen: »Ein Bruder befragte den Altvater Matoe: 'Was soll ich tun? Meine Zunge macht mir Schwierigkeiten! Wenn ich mitten unter die Menschen gehe, dann kann ich sie nicht zwingen. Ich beurteile sie in jedem guten Werk und tadle sie. Was soll ich also tun?' Der Greis antwortete ihm: 'Wenn du dich nicht beherrschen kannst, dann fliehe in die Einsamkeit. Denn es ist eine Schwäche. Wer mit den Brüdern zusammenwohnt, der darf nicht viereckig sein, sondern muß rund sein, damit er sich allen zuwenden kann.'« (PG 65, 293). Der Anachoretenschüler, der seinen Lehrer um ein Wort bittet, erhält darum die lapidare Auskunft: »Schweige und miss dich nicht selbst.« (PG 65, 141)

In einem anderen Logion betont Abbas Agathon, dass das Schweigen keineswegs als eine Extraleistung, sondern als eine das ganze Leben prägende Haltung verstanden werden müsse. Darin geht es um den Verkauf der von den Anachoreten in Handarbeit gefertigten Produkte auf dem Markt, der im Orient üblicherweise mit lauten Wortwechseln verbunden ist. Bei Agathon heißt es dazu: »Wenn sie Ware verkauften, dann nannten sie einmal den Preis und nahmen, was man ihnen gab, mit Schweigen und in Ruhe. Ebenso, wenn sie etwas kaufen wollten, gaben sie das von ihnen Geforderte mit Schweigen und nahmen die Ware, ohne ein Wort zu sprechen.« (PG 65, 113) Das Apophthegma ist in einer auffällig nüchternen Sprache gehalten. Kein Wort ist zuviel, um das Geschehen zu beschreiben. Auf diese Weise dokumentiert Agathon seine Überzeugung, dass das Schweigen eine Aufgabe ist, die eben auch im Alltag, auf dem Markt, zu bewähren ist.

Abbas Antonius, der der Nachwelt vor allem durch die athanasianische Vita bekannt wurde, gibt uns weitere Beispiele des Schweigens, wenn er nicht nur die körperliche Enthaltsamkeit, sondern auch die der Zunge fordert, neben die leibliche also die sprachliche Askese stellt, durch die erstere vertieft, verinnerlicht und radikalisiert wird. Dem Schweigen nachzustreben ist zudem nicht an ein Lebensalter gebunden: bisweilen überragt der Schüler seinen Lehrer in dieser Tugend. Entscheidend ist, dass die äußere Emigration innerlich vertieft wird. Ein Logion bringt das Problem auf den Punkt, wenn es die Frage aufwirft, was dem Anachoreten die Flucht in die Wüste nütze, wenn er noch nicht einmal sich selbst beherrschen könne. Als ein Bruder stolz erzählt, er wolle auf Pilgerfahrt gehen, weist ihn der Mönchsvater mit den Worten zurecht: „Wenn du nicht Herr über deine Zunge wirst, bist du kein Fremdling, wohin du auch gehst. Beherrsche also deine Zunge, und du bist ein Fremdling.“ (PG 65, 256) In seinem Logion spiegelt sich das Wissen der Mönchsväter, dass der Rückzug in die Wüste an der Oberfläche verbleibt, wenn der Weg nicht geistlich bewältigt wird. Denn auch in der Abgeschiedenheit entgeht der Mensch nicht den Gefährdungen des Lebens, für die stellvertretend das unbedachte Wort steht. Deswegen rügt Abbas Antonius scharf die Schwatzhaftigkeit einiger Brüder, die sich über alles mögliche unterhalten, indem er ihnen einen Spiegel aus ihrer Lebenswelt vor Augen hält: „Ihr Hof hat kein Tor, und wer will, geht hinein in den Stall und bindet den Esel los.“ (PG 65, 81) Auch das lobende Wort soll - wenn möglich - vermieden werden: „Besser ist das Schweigen“, stellt Abbas Poimen lapidar fest, um der auch unter den Anachoreten vorhandenen Versuchung zur Schmeichelei einen Riegel vorzuschieben (PG 65, 333).

Abbas Sisoes illustriert an einer merkwürdigen Begebenheit seine Wertschätzung des Schweigens: »Ich weiß von Brüdern, deren Führer sich auf einer Wanderung verirrte. Es war nachts. Sie waren zu zwölft, und alle wussten, dass sie irre gingen. Jeder kämpfte mit sich, es nicht zu sagen. Als es Tag geworden war, merkte es auch der Führer, dass sie den Weg verfehlt hatten, und er sprach zu ihnen: 'Verzeiht mir, ich habe mich verirrt.' Und alle sprachen: 'Auch wir wussten es, aber wir schwiegen.' Als er das hörte, verwunderte er sich und sagte: 'Bis zum Tode bringen es die Brüder fertig, nicht zu reden.' Und er lobte Gott.« (PG 65, 401) Das Apophthegma beschreibt ein Verhalten, das uns widersinnig erscheint. Wie kann man schweigen, wenn durch einen Fehler des Bruders der eigene Lebensweg fehlgeleitet zu werden droht? Gibt es nicht eine Pflicht, auf den Irrtum aufmerksam zu machen? Für Abbas Sisoes zeigt sich aber gerade im Verzicht darauf die wahre Demut, weil sie sich dem Bruder unterordnet. 

Das Schweigen hat bei den ägyptischen Mönchsvätern eine so große Bedeutung, dass selbst die anachoretische Unterweisung davon geprägt wird. Ein Beispiel dafür bietet Abbas Pambo, der von seinen Mitbrüdern aufgefordert wird, an den in die Wüste Sketis gereisten Erzbischof Theophilos eine Rede zu richten. Ihnen sagt er: „Wenn er aus meinem Schweigen keinen Nutzen zieht, dann kann er es auch nicht aus einer Rede.“  (PG 65, 197) Das gesprochene Wort bleibt also zweideutig, es ist eine Quelle des Missverständnisses. Das Schweigen steht über dem Reden. Deswegen verzichtet ein Anachoret, der den Abbas Antonius besucht, ihn mit Fragen zu überhäufen. „Es genügt mir schon, dich zu sehen“, entgegnet er, als dieser ihn nach seinem Schweigen befragt (PG 65, 84) Tatsächlich kann für die Mönchsväter nur der Schweigende wirklich sicher sein, seine Haltung nicht bereuen zu müssen: „Auf dem Sterbebett sagt Abbas Arsenius zu seinen Schülern einige letzte Worte. Darunter folgendes: 'Wenn ich redete, musste ich es oft bereuen, wenn ich schwieg, niemals.'“ (PG 65, 105)
 
Von Abbas Poimen, dem wir die größte Spruchsammlung innerhalb der Apophthegmata Patrum verdanken, stammt das Logion: „Bist du ein Freund des Schweigens, dann wirst du Ruhe haben an jedem Orte, an dem du wohnst.“ Mit seinem Hinweis auf die Ruhe benennt Poimen nicht die Zurückgezogenheit der Wüste, sondern die vorweggenommene Erfahrung endzeitlicher Vollendung. Wo durch das Schweigen der Raum geöffnet wird, dass Gott zu Gehör kommen kann, dort findet der Mensch zum Heil. Dieses Ziel erklärt, warum das Schweigen bei den ägyptischen Mönchsvätern eine so hohe Wertschätzung genießt und warum es radikal eingefordert wird. Denn auch das Schweigen kann veräußerlichen. Wenn jemand mit dem Mund schweigt, mit dem Herzen aber andere verurteilt, dann - so Poimen - redet er in Wirklichkeit. Umgekehrt gilt: „Da ist ein anderer, der redet von der Frühe bis zum Abend, und doch bewahrt er das Schweigen, das heißt, er redet nichts Nutzloses.“ (PG 65, 329) Das entscheidende Kriterium dessen, was der Anachoret tut, ist also sein Verhältnis zu Gott: „Wer Gottes wegen redet, tut gut daran, wer Gottes wegen schweigt, tut ebenso gut.“ (PG 65, 357)

Mit dem Hinweis auf Gott ist die entscheidende Begründung des Schweigens erreicht. Nur dort ist es vollkommen, wo es um Gottes willen geschieht, also nicht als menschliches Werk, sondern als göttliches Geschenk gedeutet wird. Deswegen verweigert sich Abbas Johannes Kolobos einem redseligen Bruder, der ihn in ein Gespräch zu verwickeln sucht. Als er dessen Redefluss nicht stoppen kann, sagt er: „Seit du hier hereingekommen bist, hast du Gott von mir verjagt.“ (PG 65, 216) Im Reden bleibt die Welt präsent, im Schweigen erschließt sich Erfahrung Gottes. Von Abbas Arsenios wird ein Logion überliefert, in dem es heißt, er habe in der Einsamkeit unablässig betend eine Stimme gehört, die zu ihm gesprochen habe: »Fliehe, schweige, ruhe! Das sind die Wurzeln der Sündenlosigkeit.« (PG 65, 88) Mit diesem Logion benennt er die nur von Gott her mögliche Vollendung. Menschliche Worte können das Heil Gottes nicht fassen, schweigend will es empfangen werden.

Überblicken wir die Überlieferung der ägyptischen Apophthegmata, erschließt sich uns ein vielstimmiges Spektrum monastischer Spiritualität. Das Schweigen zu lernen - das ist nach Ansicht der ägyptischen Mönchsväter die große Lebensaufgabe, der sie sich durch ihren Rückzug in die Einsamkeit stellen. Bei einigen dieser Väterworte lässt sich nicht leugnen, dass sie von einer überraschenden Aktualität sind. Auch Luther konnte, wie wir gesehen haben, daran anknüpfen, weil er bei den ägyptischen Anachoreten eine im Evangelium begründete Glaubenshaltung erblickte. Tatsächlich werden das Leben und Denken der Mönchsväter mit der Kategorie der Werkgerechtigkeit nicht zureichend erfasst. So ist es auch nicht verwunderlich, dass in den reformatorischen Kirchen nach einer gewissen Zeit der Abstinenz zusammen mit der monastischen Lebensform auch das Schweigen wieder entdeckt wurde.

Tersteegen: Gott in der Seele erfahren

In der Geschichte des Protestantismus lassen sich nicht viele, aber doch einige wichtige Beispiele nennen, in denen an die monastische Tradition des Schweigens angeknüpft wurde. Im 18. Jahrhundert war es Gerhard Tersteegen (1697-1769), der bekannte Kirchenlieddichter und Prediger des reformierten Pietismus vom Niederrhein, der das Schweigen als Lebensform neu entdeckte. Tersteegen war überzeugt, dass der wahrhaft Gott Suchende in dieser Welt ein Fremdling ist. In einem Vierzeiler aus seinem "Geistlichen Blumengärtlein" plädiert er für den Rückzug aus der Welt: "Allein, mit Gott allein zu sein, / Ist das vergnügt'ste Leben; / Doch wer mit ihm will sein gemein,/ Muss allem Abschied geben." (Geistliches Blumengärtlein, Stuttgart 171988, 85). Um diesen Weg in der Einsamkeit zu beschreiben, greift Tersteegen auf das Bild der "Wüste" zurück. Die Wüste ist für ihn - wie Ernst Benz gesagt hat - eine sprachliche Metapher für "die selbstgewählte Einsamkeit des stillen Kämmerleins, den Zufluchtsort des Gebets, der Meditation und Selbstprüfung inmitten des turbulenten Getriebes des städtischen und bürgerlichen Lebens" (Die protestantische Thebais, Wiesbaden 1963, 43). In die Wüste zu gehen - das heißt für Tersteegen, Raum zu schaffen, dass Gott innerlich neu erfahren werden kann. So schreibt er im „Geistlichen Blumengärtlein“: "O stille Wüstenei, / Von Welt und Sinnen frei / Mit Gott im Grunde leben, / Da gar nichts kommt hinein / Als Gott und ich allein, / dem ich mich ganz ergeben." (Blumengärtlein, 99)

In dem Hinweis auf die „Wüste“ klingt die Wertschätzung an, die Tersteegen für die Asketen der frühen Kirche hegte. In der Vorrede zu einer seiner „Übersetzungen“ der Heiligenlegenden beschreibt er die Asketen als Vorbilder eines heiligen Lebens in Christus: „Zu aller Zeit (haben sich) auserlesene teure Seelen gefunden, welche nur sorgten, wie sie dem Herrn gefallen möchten und heilig sein, am Leibe und am Geiste, um dem Herrn desto ungehinderter anzuhangen; ebenso sind diejenigen, die man Asketen nennt, den gemeinen Umgang der Menschen geflohen, haben sich in abgelegene Orte nach göttlichem Willen zurückgezogen und in einem heiligen, inwendigen, verborgenen Leben vor Gott und dessen Gegenwart mit allem Fleiß Tag und Nacht sich geübt." (Weg der Wahrheit, Stuttgart 1968, 249-251)

Die Abschaffung der Klöster in der Reformationszeit war nach Auffassung Tersteegens deswegen nur eine Notmaßnahme, die sich aus den Mißständen ergeben habe, ein Neuanfang sei darum notwendig: "Wie jämmerlich müssen sich doch entschiedene Seelen unter den Protestanten zerstreuen? Wie wäre es, wenn etliche von ihnen, die in Christo eines Sinnes sind, auch äußerlich sich zusammen täten, ohne Parteilichkeit, ohne Gewissenszwang, als Brüder einträchtig beieinander wohnten? Wenn sie auch ihre häuslichen Geschäfte und Uebungen des Gottesdienstes in eine Ordnung einzurichten suchten? Wäre ein solches Unternehmen eine tadelnswürdige Sache? Könnte nicht vielmehr eine solche Gesellschaft ein Licht der Welt sein?" (Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen 1, Neudruck Uitikon-Waldegg 1984, 18f.)

Mit diesem Ideal vor Augen schloss sich Tersteegen am Gründonnerstag 1724 mit Gleichgesinnten auf dem Ackergut „Otterbeck“, einer zwischen Mülheim und Wuppertal gelegenen ehemaligen Schmiede, zu einer „Bruderschaft des gemeinsamen Lebens“ zusammen. Die Brüder wohnten in einem Haus, das von der Umgebung durch eine hohe Mauer getrennt war. Jeder hatte sein eigenes Zimmer. Der Tagesablauf sah stille Gebetszeiten am Morgen und vor der Nachtruhe vor. Handarbeit sollte den Lebensunterhalt für die Gemeinschaft sichern, hinzu kamen Aufgaben in der Krankenseelsorge und der Volksmission.

Einen Einblick in das Leben dieser „klosterähnlichen Gründung“ geben die „Verhaltungsregeln“, die Tersteegen für seine „beysammen wohnende Bruder-Gesellschaft“ geschrieben hat (Max Goebel, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche 3, Coblenz 1860, 440-445). Walter Nigg hat diese „Regeln“, die nach dem Vorbild mittelalterlicher Mönchsregeln gestaltet sind, als „ein ehrwürdiges Dokument protestantischen Mönchtums“ bezeichnet (Vom Geheimnis der Mönche, Zürich-Stuttgart 1953, 19). Man kann das so sagen, muss dabei allerdings beachten, dass Tersteegen nur Ratschläge und Empfehlungen geben wollte, auf ein lebenslanges Gelübde aber verzichtet. In den Regeln bezeichnet er die Gemeinschaft von Otterbeck als eine „Wohnung Gottes“ (§ 1). Im Zentrum des Lebens solle das Gebet stehen als ein Mittel, „die Welt zu verlassen“ und „Tag und Nacht mit Gott umzugehen“ (§ 2). Dem Schweigen, dem ein ganzer Paragraph gewidmet ist, misst er dabei eine entscheidende Rolle zu (§ 4). Tersteegen beginnt mit dem Appell: „Betet viel und redet wenig“. Sodann wirbt er eindringlich für das „heilige, sanfte, freundliche  Stillschweigen, welches Gott und alle Heiligen so sehr geliebet“. Und er begründet es mit den Worten: „Der Schwätz-Geist ist eine Zerstörung aller christlichen Zusammen-Wohnungen, eine Auslöschung der Andacht, eine Verwirrung der Gemüther, eine Verschwendung der Zeit, eine Verläugnung der göttlichen Gegenwart. Die Liebe, der Gehorsam, oder die Nothwendigkeit müssen euch den Mund öffnen, sonst schweiget immerdar. Selbst im Geistlichen erbauet einander mehr mit einem heiligen Wandeln, als mit vielen Worten! Gott wohnet nur in stillen Seelen und da muss euch die Zunge stille werden. Sehet die Früchte des heiligen Stillschweigens: es gibt euch Zeit, Kraft, Sammlung, Gebet, Freiheit, Weisheit, Gottes Beiwohnung und einen seligen Frieden.“

In den weiteren Abschnitten der „Verhaltungsregeln“ nimmt Tersteegen das Miteinander der Bruderschaft in den Blick (§ 5-7). So fordert er die Brüder zum gegenseitigen Dienst nach dem Vorbild der Fußwaschung Jesu auf. Der augustinische Gedanke der Bruderliebe spiegelt sich darin ebenso wie die im benediktinischen Kloster praktizierte Fußwaschung. Tersteegen verschweigt jedoch nicht die Gefahren der Gemeinschaft und warnt vor Argwohn und böser Nachrede. Auch die Besitzverhältnisse werden angesprochen (§ 8/9). In Übereinstimmung mit den Regelungen Benedikts, der die einzelnen Mönche zur Armut verpflichtet und das Eigentum des Klosters als Gottesbesitz bezeichnet, mahnt Tersteegen seine Brüder, sich "vor dem subtilen Betrug des Reichthums" zu hüten und der "Armuth Jesu" nachzustreben. Eigentum behindere den "Umgang mit Gott" ebenso wie den "Umgang miteinander" (§ 10/11). Tersteegen beschließt seine Regeln mit einer Aufforderung: "Lebet eingekehrt im Grund der Hertzens bey Gott wie die unschuldige Kindlein, die keine Vernunft, aber viel Hertz und Liebe haben. Da werdet ihr getrost seyn in kindlichem Vertrauen zum himmlischen Vater und erfahren, daß seine Gebote nicht schwer sind." (§ 12)

Mit diesen Worten entfaltet Tersteegen sein Hohelied des Schweigens, das er als Ausdruck einer verinnerlichten Frömmigkeit preist. Wie sehr er dabei von den geistlichen Traditionen des altkirchlichen Mönchtums beeinflusst ist, wird bis in die Wortwahl hinein deutlich. Weil das Schweigen einen Raum für den sich zur Erfahrung bringenden Gott schafft und ihn in die Seele einziehen lässt, öffnet es den Blick auf die Verheißung endzeitlichen Heils. Damit gibt Tersteegen der geistlichen Tradition der ägyptischen Mönchsväter eine pietistische Deutung. Zugleich ist er ein gutes Beispiel für das Bemühen um die Rückgewinnung verbindlich gelebten Glaubens in der evangelischen Kirche. Seine brüderliche Gemeinschaft in Wuppertal zeigt, dass im Umfeld der pietistischen Aufbrüche des 18. Jahrhundert der monastische Gedanke, der mit der Reformation widerlegt zu sein schien, mit neuem Leben erfüllt werden konnte.

Bonhoeffer: Schweigen und Hören

Ein Beispiel aus ganz anderer Zeit und ganz anderen Umständen finden wir bei Dietrich Bonhoeffer, der während des Kirchenkampfes im pommerschen Finkenwalde dem seminaristischen Miteinander der Kandidaten eine am klösterlichen Leben orientierte Gestalt gab. Es würde zu weit führen, auf die kirchenpolitischen Umstände einzugehen, die zur Gründung des Predigerseminars führten: das kirchliche Notrecht der Dahlemer Bekenntnissynode, die Einrichtung eines Kirchenministeriums, die Einsetzung staatlicher Kirchenausschüsse u.a.m. Mich interessiert hier, von welchen Vorstellungen das gemeinsame Leben, dem Bonhoeffer seine Schrift gleichen Titels widmete, geprägt war. Wie grundsätzlich er sein Anliegen verstand, deutet Bonhoeffer in einem Brief vom Januar 1935, der an seinen Bruder Karl Friedrich gerichtet ist, an. Darin schreibt er: „Die Restauration der Kirche kommt gewiss aus einer Art neuen Mönchtums, das mit dem alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat. Ich glaube, es ist an der Zeit, hierfür die Menschen zu sammeln.“ (Gesammelte Schriften 3, hg. v. Eberhard Bethge, München 1960 = GS 3, 25) Die gedankliche Anknüpfung an die monastische Tradition der Alten Kirche war nicht zufällig. Bonhoeffer hatte sich bereits in seiner akademischen Lebensphase mit der Geschichte des Mönchtums beschäftigt (GS 3, 130ff.) Jetzt aber - mit der Übernahme der Leitung des Finkenwalder Seminars - wurde er konkreter. Eberhard Bethge beschreibt in seiner großen Biographie die Einzelheiten des Seminarlebens. Darin ist von den Andachten die Rede, mit denen der Tag begonnen und beendet wurde. An das Frühstück schloss sich eine Zeit der Stille an, später wurde daraus ein wöchentliches Exerzitium. Bethge kommentiert dies mit den Worten: „Dass es hier um Einübung in brüderliche Gemeinschaft und um eine persönliche Erziehung der künftigen Prediger ging, war unverkennbar.“ (Dietrich Bonhoeffer, München 1978, 492) Doch das war noch nicht alles: Um dem Leben in der Christusnachfolge eine verbindliche Gestalt zu geben, gründete Bonhoeffer nur wenige Monate nach der Eröffnung des Predigerseminars das „Bruderhaus“, eine monastisch geprägte Kommunität, der sich sechs Seminaristen anschlossen. Der Antrag zur Gründung der Kommunität nennt mehrere Merkmale, in denen sich der Geist des frühen Mönchtums ebenso wie auch der pommerschen Erweckungsbewegung zeigt: eine Ordnung für das tägliche Gebet, die brüderliche Vermahnung, die persönliche Beichte, die theologische Arbeit und die Verpflichtung, einem Ruf der Kirche in einer Notsituation jederzeit zu folgen.  

Ausgehend von den Erfahrungen in und mit dieser Kommunität schrieb Bonhoeffer sein (1939 erstmals veröffentlichtes) Büchlein „Gemeinsames Leben“ (München 101961). Es gehört bis heute zu den Texten Bonhoeffers, die besonders weite Verbreitung gefunden haben. Eingangs stehen einige grundsätzliche theologische Erwägungen zur Begründung der christlichen Gemeinschaft „durch Jesus Christus und in Jesus Christus“ (Kap.1), die Bonhoeffers von Karl Barth geprägten lutherischen Standort erkennen lassen. In den weiteren Kapiteln entfaltet er Überlegungen zur Gestaltung dieser Gemeinschaft. Bonhoeffer nennt zunächst die täglichen Gottesdienste mit Schriftlesung, Gebet und Lied (Kap. 2), geht dann auf den Dienst der Gemeinschaft aneinander ein (Kap. 4) und beschließt die Darstellung mit Überlegungen zu Beichte und Abendmahl (Kap. 5). Soweit der Rahmen seines Buches. 

In dessen Mitte aber hat Bonhoeffer ein Kapitel gestellt, das aus dem Zusammenhang herauszufallen und den Überlegungen zur Gemeinschaft zu widersprechen scheint. Es trägt die Überschrift „Der einsame Tag“ (Kap.3). In diesem Kapitel geht Bonhoeffer auf die Bedeutung des Schweigens in der Gemeinschaft ein. Das Kapitel beginnt - ähnlich wie das entsprechende Kapitel der Benediktusregel, aber doch mit anderer Pointe - mit einem Psalmwort. Während dort das Schweigen als Ausdruck demütiger Einordnung in die klösterliche Hierarchie gedeutet wurde, gibt Bonhoeffer dem Schweigen doxologisches Gewicht: „Dir wird Schweigen als Lobpreis, Gott, in Zion“ (Ps 62,2). Es geht Bonhoeffer also um Gott, nicht um den Menschen, wenn vom Schweigen, von der Stille, vom Rückzug die Rede ist. Im weiteren Verlauf des Kapitels beschreibt Bonhoeffer das Miteinander von Gemeinschaft und Alleinsein und betont, wie sehr das eine des anderen bedarf: ohne die Bereitschaft zur Gemeinschaft gibt es kein Alleinsein, ohne die Bereitschaft zum Alleinsein ist Gemeinschaft nicht möglich. Wie aber soll das Schweigen gelebt werden? Bonhoeffer gibt ein paar praktische Hinweise. Er schlägt „feste Schweigezeiten“ vor, eine „feste Ordnung“, die „dem Einzelnen sein Alleinsein sichern“ kann (68), und er spricht von einer „täglichen Meditationszeit“ (69) für Schriftbetrachtung, Gebet und Fürbitte (68). Wichtiger ist freilich, welche theologische Deutung er dem Schweigen gibt. Sein Kerngedanke lautet, dass das Schweigen nichts anderes ist „als die schlichte Begegnung mit dem Worte Gottes... Diese Begegnung aber wird ihm geschenkt werden.“ (68) Im Schweigen spiegelt sich also die Passivität des Menschen im Heilsgeschehen, in dem der Mensch nur empfangen, nicht aber wirken kann. Im Schweigen des einsamen Tages richtet sich der Einzelne auf das Hören des Wortes aus. Bonhoeffer schreibt: „Schweigen heißt nichts anderes als auf Gottes Wort warten und von Gottes Wort gesegnet herkommen.“ (67) Das Schweigen ist also nicht - wie bei Benedikt - Ausdruck demütiger Sündenerkenntnis, sondern es wird auf dem Boden der reformatorischen Tradition „in seiner wesenhaften Beziehung auf das Wort“ Gottes definiert. Bonhoeffer schreibt: „Das Wort kommt nicht zu den Lärmenden, sondern zu den Schweigenden.“ Und er fügt, darin an Tersteegen anknüpfend, hinzu: “Die Stille des Tempels ist das Zeichen der heiligen Gegenwart Gottes in seinem Wort.“ (66) 

Wenn man Bonhoeffers „Gemeinsames Leben“ liest, fällt auf, dass er sich in seinen Ausführungen an keiner Stelle auf die monastische Tradition bezieht - wie er überhaupt sehr zurückhaltend mit Zitaten und Verweisen ist. Weder erwähnt er die altkirchlichen Asketen noch die mittelalterlichen Orden. Vermutlich will er vermeiden, dass sein Entwurf einer christlichen Kommunität durch die Brille der monastischen Tradition gesehen wird. Tatsächlich entwickelt er eine eigene Deutung, deren Pointe darin besteht, dass das Schweigen vom Wort Gottes her verstanden wird. Bonhoeffer schreibt: „Das Schweigen des Christen ist hörendes Schweigen, demütiges Schweigen, das um der Demut willen auch jederzeit durchbrochen werden kann. Es ist das Schweigen in Verbindung mit dem Wort.“ (67) Damit gibt er einen wichtigen theologischen Hinweis: Schweigen ist keine asketische Übung, es ist auch kein Ausdruck einer besonders frommen Lebenshaltung. Entscheidend ist, dass das Schweigen auf das Hören des Wortes bezogen ist - als Warten ihm vorausgehend, als Meditation ihm nachfolgend. Mit seinem Gedanken befindet sich Bonhoeffer in überraschender Nähe zu dem ägyptischen Mönchsvater Poimen, der als Kriterium des Schweigens den Gottesbezug genannt hatte: „Wer Gottes wegen redet, tut gut daran, wer Gottes wegen schweigt, tut ebenso gut.“ (PG 65, 357) Im Schweigen wird zur Erfahrung, dass dem Wort Gottes das Hören des Menschen entspricht. In diesem Sinne formuliert Gerhard Ebeling im ersten Band seiner „Dogmatik des christlichen Glaubens“: „In Sachen Gottes stehen Reden und Schweigen nicht nur nebeneinander, sondern gehören untrennbar ineinander. Das Reden kann hier nur dann recht sein, wenn es getragen und begleitet ist von einem Schweigen, das der Gegenwart Gottes entspricht.“ (Tübingen 1979, 162) 

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