Amelungsborn

von der Reformation bis zur Großen Vakanz 1912

von
Herbert W. Göhmann 


Da sich 4 ½ Jahrhunderte nicht in ein oder 2 Stunden erschöpfend darstellen lassen, soll versucht werden, das  Wesentliche der im Thema vorgegebenen Epoche an gewissen Schlüsselereignissen, prägenden Persönlichkeiten und Institutionen der Zeit spürbar zu machen.

Eine grobe Kenntnis des der Reformation vorhergehenden Mittelalters vorausgesetzt, beginnen wir in jedem Fall mit der Reformation und in der Amelungsborner Klosterkirche. Dort steht an der Südwand des romanischen Bauteils das prächtige Epitaph des letzten altgläubigen und zugleich ersten evangelischen Abts Andreas Steinhauer (1555-1576), das mit der ebenfalls vorhandenen schlichten Gruftplatte Steinhauers im nördlichen Chorumgang ein in Kirchen selten anzutreffendes Ensemble bildet. Sein Wirken in einer für Kloster und Land äußerst schwierigen Zeit des religiösen Umbruchs und der politischen und geistigen Neuorientierung scheint dem Dargestellten hier eine geradezu sinnbildliche Würdigung verschafft zu haben.

Sein Name weist ihn als Sohn eines Bildhauers aus. In London geboren, studierte er in Paris, Louvain und Köln bevor er 1538 mit 26/27 Jahren in den Zisterzienserorden eintrat. 10 Jahre später wurde er nach Amelungsborn abgeordnet, wo er 1555 zum Abt erhoben wurde, ein schweres Amt in dem durch die kriegerischen Religionswirren, überzogene Abgabeverpflichtungen an den Hof und die verbreitete Abneigung gegenüber allem Kirchlichen stark geschwächten Kloster, dessen Konvent nach 50 Konventualen und 90 Konversen im Hochmittelalter nun auf  kaum mehr als ein Dutzend Personen geschrumpft war.

Wir erinnern uns: Martin Luther hatte 1517 mit seinen 95 Thesen die Mißstände in der römischen Kirche angeprangert: das entartete Papsttum, den Ablaßwucher, die Gewährung von
Gnadenmitteln gegen Bezahlung, den Schacher um geistliche Ämter und die liederliche Lebensweise vieler Priester. Obwohl es ihm dabei einzig um die Wiederherstellung einer starken christlich-weltlichen Autorität und der Verkündigung nur des reinen Wortes Gottes ging, löste er über Deutschland hinaus eine breite Volksbewegung aus, die in ihrem Verlauf als Reformation „an Haupt und Gliedern“ zur Kirchenspaltung führte, mit all den bekannten Folgen im politischen, theologischen und Volksleben. Kloster Amelungsborn war davon ebenso betroffen wie das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel, in dem es lag. Es gab das Aufbegehren der Landbevölkerung im Bauernkrieg 1525. Die protestantischen Fürsten, die sich 1542 im Schmalkaldischen Bund gegen Kaiser und Papst organisiert hatten, gaben bald nach blutigen Niederlagen auf. Während dessen mußte der damalige Landesherr des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel, Herzog Heinrich der Jüngere (1514-68) aus dem Land fliehen und die Regierungsgeschäfte seiner lutherisch gesinnten Frau überlassen. Die von ihr veranlaßten ersten Reformationsversuche im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel brachten wenig Erfolg, und auch beim gemeinen Volk fand das eigensinnige und rücksichtslose Vorgehen der neuen Machthaber wenig Sympathien.

Heinrich, ein erbitterter Feind Luthers und der neuen Bewegung, kehrte nach der Niederlage des Schmalkaldischen Heeres zurück und bereitete dem reformatorischen Spuk schnell ein Ende. Ihm war zur Finanzierung seines desolaten Staatshaushalts jedes Mittel recht. Längst war es zur Gewohnheit geworden, sich durch Erhebung teils enormer Abgaben von den Klöstern bis hin zur kompletten Einziehung des klösterlichen Vermögens zu bereichern, um auf diese Weise den überbordenden militärischen und höfischen Aufwand zu finanzieren. So zwang Heinrich etwa Amelungsborn, ihm seine wertvollste Grangie Allersheim zu überlassen. Neu, aber nicht überraschend war, daß er sich wegen des leichteren Zugriffs auf kirchliche und klösterliche Ämter und Vermögen zum Oberhaupt seiner Landeskirche einsetzen ließ, wie es erst später protestantischer Brauch wurde. Erst nach seinem Ableben konnte am 10. Oktober 1568  im welfischen Herzogtum als dem letzten der protestantischen Fürstentümer von seinem Sohn Herzog Julius (1568-1589) die Reformation verkündet werden.

Wolfenbüttel bekam nun ein Konsistorium aus Geistlichen und Laien unter dem Vorsitz des Herzogs als Summepiskopus und Vertretern der Kurie. Es tagte mehrmals jährlich in verschiedenen Landesklöstern, so auch etliche Male in Amelungsborn. In der neuen kirchlichen Ordnungsstruktur unterstanden einem Generalissimus Superintendens in Wolfenbüttel 5 Generalsuperintendenten, denen wiederum 18 Superintendenturen mit fast 300 Pfarren zugeordnet waren. Die Superintendentur Holzminden gehörte mit 9 Pfarrbezirken zur Generalsuperintendentur Alfeld. Kloster Amelungsborn bildete mit seinen Klosterdörfern Negenborn und Holenberg allerdings einen eigenen Bezirk.

Das hier besonders interessierende Schicksal der Klöster wurde nicht zuletzt dadurch bestimmt, daß Herzog Julius schon zu Lebzeiten seines Vaters Heinrich in dem Amelungsborner Abt Steinhauer einen verständnisvollen Freund und Berater gehabt hatte. Der war dem reformatorischen Gedankengut so aufgeschlossen, daß er nach dem Tod seines Vorgängers Abt Vitus Teckemester mit einem nun auf 5 Personen beschränkten Konvent am 10. August 1568 spontan zum Luthertum konvertierte. Zum Konvent gehörten der Prior, der Klosterpfarrer und die Pfarrer von Stadtoldendorf und Golmbach. Dadurch war die Zukunft Amelungsborns (wie anderer Landesklöster auch) im Rahmen einer mit Toleranz und Einfühlungsvermögen betriebenen Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse bereits vorgezeichnet. Steinhauers 1572 (60jährig) geschlossene Ehe mit der Stadtoldendorfer Bürgerstochter Margarete Peinen war nur die letzte Konsequenz aus dem Willen zu spiritueller Neuorientierung. Schon 1569 richtete Steinhauer im Kloster eine theologische Internatsschule für 12 Schüler ein. Sie trugen als Stipendiaten mit dem traditionellen Horensingen, dem täglichen Chordienst in schwarz-weißen Habiten und anderen zisterziensischen Consuetudines dazu bei, den formalen Charakter des traditionellen Klosters fortzuführen. Das blieb so in abgeschwächter Form bis ins 18. Jahrhundert.

Eine Kirchen- und Klosterordnung von 1569 betonte den Erhalt der Mannsklöster des Landes  nach Württembergischen Vorbild. Das hieß: unter der Voraussetzung gewandelter Aufgaben und der Akzeptierung neuer Führungs- und Verwaltungsstrukturen sowie der pfarramtlichen Versorgung der umliegenden Gemeinden und Errichtung von Klosterschulen. Was die spirituelle Ausprägung betraf, hatten die Konvente zwar entgegen ihren monastischen Gewohnheiten alles das abzutun, was dem protestantischen Glaubensverständnis widersprach. Da das innere Leben der Abtei aber weiterhin von den zisterziensischen Gewohnheiten geprägt war, gelang dem nun vom Geist des Luthertums erfaßten Steinhauer der Spagat zwischen beiden. Und das glauben wir noch heute im Begriff des „Evangelisch-lutherischen Zisterzienserklosters“ wiederzuerkennen.

Woher aber kam letztlich das Verständnis der braunschweigischen Fürsten für den Fortbestand und Erhalt der alten Klöster über die folgenden Jahrhunderte? Warum folgten sie nicht der üblichen Politik anderer Fürsten, ihre Begehrlichkeiten kurzerhand durch den Einzug der Kirchengüter und Abteien und der Verwertung ihrer Vermögenswerte zu befriedigten? Nicht im Braunschweigischen! Aber auch hier läßt sich die über mehr als 3 ½ Jahrhunderte zu beobachtende Klosterpolitik nicht allein durch die vom reformatorischen Zeitgeist getriebene Verinnerlichung persönlicher Frömmigkeitserfahrungen erklären. Sicher auch nicht durch ein erstarktes Pflichtgefühl aus dem resultierenden Machtzuwachs des neuen religiösen Amtes. Was immer man vermuten mag: Tatsächlich war die welfische Klosterpolitik auf eine nachhaltige Nutzung des zur Verfügung stehenden Potentials zum Vorteil der umfangreichen, stets wachsenden Staatsausgaben angelegt. Auf diese Weise ließ sich neben der Prachtentfaltung und Selbstdarstellung des absolutistischen Hofes und einer kostspieligeren Verwaltung auch das moderne Heer dauerhaft finanzieren, zu dem zeitweilig die Hälfte aller wehrfähigen Männer herangezogen wurden.  

Was nun Kloster Amelungsborn betrifft, so hing das weitere Schicksal des Klosters in den nächsten  nachreformatorischen Jahrhunderten von der erfolgreichen Verfolgung dreier zentraler Aufgabenbereiche ab: 1) In erster Linie durch Fortführung und Optimierung des klösterlichen Wirtschaftsbetriebs, wie er zur Zeit der Mönche noch ganz auf die Versorgung einer nicht immer kleinen Mönchsgemeinde und die Erhaltung ihrer baulichen und agrarischen Besitztümer gerichtet war. 2) Aber auch die Einrichtung  einer Lateinschule, in der unter der Zucht der Äbte ein geistlicher und administrativer Nachwuchs für das Land herangebildet werden sollte und 3) die Versorgung des Pfarrdienstes in den umliegenden Gemeinden im Sinne der lutherischen Lehre. Schon vor der Reformation hatten Amelungsborner Konventualen die eingepfarrten Dörfer Negenborn und Holenberg sowie die Patronatspfarren Stadtoldendorf und Golmbach geistlich versorgt. Eine Hinwendung zur Seelsorge auf Kosten von Chordienst, Privatmessen und Klausurstrenge war auch in den katholisch gebliebenen Zisterzienserklöstern  früh üblich geworden.

Nun zu TOP 1): Zunächst verblieb den evangelischen Äbten ihre seit dem Mittelalter zugestandene Souveränität auch in der Verwaltung des Klosterguts. In der unter Herzog August d.J. mehr oder weniger abgeschlossenen Neuordnung der staatlichen Verwaltungssysteme war mit einer Neuen Klosterordnung von 1655 auch die Existenz der inzwischen doch in Frage gestellten Klöster neu definiert. Ihnen wurden neue Aufgaben im Rahmen des Staatswohls zugewiesen. Dazu ging die Klosterökonomie zunächst in die Aufsicht herzoglicher Klosterinspektoren über, während Funktion und Befugnisse des Abtes sich entsprechend auf die geistlichen Aufgaben reduzierten. Für die Folgezeit war es dann eine 1674 eigens gegründete Klosterratsstube, die durch ihre Amtmänner alle Geschäfte des Klosterbesitzes der erhaltenen 12 Landesklöster und ihrer Außenhöfe erledigen ließ. Diese mußten die von ihnen erwirtschafteten Erträge nach Abzug der Kosten des eigentlichen Haushalts an die Klosterratsstube überweisen. Sie waren allerdings, bewußt vom allgemeinen Staatshaushalt getrennt, einzig für kirchliche, schulische und wohltätige Zwecke vorgesehen. An dieser Praxis änderte sich bis ins 19. Jahrhundert wenig.

Die Klosterökonomie stellte sich unter Leitung der herzoglichen Inspektoren bereits ¼ Jahrhundert nach der Reformation als gut strukturiert und ertragreich dar. Die auf der Grundlage großflächigen Ackerbaus, Weidelandes und Hudewäldern betriebene Viehwirtshaft produzierte mit annähernd 1000 Schafen, 100 Rindern und 200 Schweinen für die regionalen Märkte die begehrte Wolle und Fleisch für die wohlhabendere, nach dem Spätmittelalter wieder zunehmende Bevölkerung. Das erklärt etwa auch das neue „Schweine Hauß“, das der Nachfolger Abt Steinhauers, Vitus Buchius, bauen ließ. Buchius ließ zudem die große Umfassungsmauer in der heutigen Form fertigstellen, und ihm verdankte die Klosterkirche den (vielleicht ersten) Dachreiter, ein spitz aufragendes, achteckiges Türmchen mit Helmlaterne, und den gemeinsam mit Kloster Corvey und Lüneburger Salinenpächtern 1592 angeschafften Taufstein. All das ließ sich trotz der anhaltend hohen finanziellen Direktbelastungen durch die Landesherrschaft bewerkstelligen!

Auch die seit dem Mittelalter fortgeführten Außenhöfe mit zum Teil ertragreichen Grund- und Viehbeständen trugen zu den klösterlichen Erträgen neben Einnahmen aus Mühlen, Pachten und geldwerten Rechten bei. Diese sog. Grangien waren dem Kloster seit dem 12. Jahrhundert aus Stiftungen, Zukäufen und dem Legen ganzer Dorfsiedlungen zusammengewachsen, wurden von Laien unter Aufsicht von Konversen, später Amtmännern betrieben und blieben dem Kloster zum Teil bis in die neuste Zeit zugeordnet. Anschauliches Beispiel ist Schnedinghausen bei Northeim: ein aus Einzelerwerbungen bereits im 13. Jahrhundert arrondierter agrarischer Großbetrieb, der bis zu seinem Verkauf 1776 an einen hannoverschen Minister von Hardenberg zu Amelungsborn gehörte. Stadthöfe, etwa in Höxter und Hameln förderten dem Absatz der Produkte.

Zu TOP 2): Die Amelungsborner Klosterschule war Teil eines neu konzipierten Bildungssystems, von dem es hieß: „damit die ministeria ecclesiae für und für desto stattlicher besetzt und versehen werden mögen“. Es mutet wie eine Vorwegnahme unserer heutigen bildungspolitischen Vorstellungen an, wenn damals 12-14 Jahre alte, begabte Knaben von unbemittelten Eltern auf Empfehlung ihrer Dorfschulmeister und nach Prüfung durch hohe Kirchenvertreter in einem gestuften System ausgebildet wurden, das über die Klosterschulen Amelungsborn, Grauhof, Riddagshausen und Marienthal bis zum Studium an der welfischen Landesuniversität Helmstedt  (gegr. 1576) reichte, und das kostenlos! Hier wird ein fürstlicher Wille erkennbar, dessen absolutistisches Staatsverständnis ganz auf das allgemeine Landeswohl gerichtet war.

Die Schüler, 12 an der Zahl, lebten als Stipendiaten bildungsbeflissen und im Dienst der klösterlichen Riten in den ehemaligen Mönchszellen,. Diese befanden sich im alten „Slaphus“, der südlichen Fortsetzung des Querschiffs der Kirche und werden auf dem ältesten Riß der Klosteranlage von 1729 noch als „Schule und alte Rector Hauß“ bezeichnet.  
Hier und in anderen Teilen des Konventsflügels waren auch der Abt, Kapellan und andere Bedienstete untergebracht. Es gab noch den Kreuzgang, aber noch nicht die für die spätere Schule bedeutsame Kantorey.

Immer wieder hatte sich Amelungsborn im Auf und Ab der politischen und sozialen Möglichkeiten mal gefördert mal behindert gesehen. Dann brach der 30jährige Krieg (1618-48) über das Land herein! Die wenigen Jahrzehnte, in denen Ökonomie und Schule nach der Reformation aufgeblüht waren, gingen nun bald zu Ende. Zunächst waren seine Auswirkungen im Herzogtum nicht spürbar. Aber seit 1622 zogen die ligistischen Heerscharen des Feldherrn Tilly und der protestantischen Gegenseite wiederholt im südlichen Niedersachsen umher. Mit den üblichen Plünderungen, Brandschatzungen und Zerstörungen kamen Pest und andere Seuchen über die Bevölkerung. Bei der Belagerung von Northeim ging auch die Amelungsborner Grangie Schnedinghausen samt Kapelle in Flammen auf und konnte erst nach Jahren wieder ihren Betrieb aufnehmen.  

Im Sommer 1625 setzte Tilly bei Höxter über die Weser, nachdem er bereits im Vorjahr das Gebiet des heutigen Landkreises verwüstet und ausgeplündert hatte. Jetzt errichtete er bei Altendorf ein Feldlager, von wo seine Truppen nach Amelungsborn und Stadtoldendorf  vorstießen. Klostertor und Kirche wurden aufgebrochen, alles, was in Kirche, Küche und Kellern und den übrigen Klostergebäuden nicht niet- und nagelfest war, fortgeschleppt oder zerschlagen, Vorräte mitgenommen, das Vieh weggetrieben, die Bewohner mißhandelt. Prior Theodor Berkelmann, Konvent und Schüler hatten sich rechtzeitig auf dem Klosterhof in Einbeck in Sicherheit bringen können. Dort wurde er 1625 zum Abt bestimmt, konnte aber erst 2 Jahre später auf das Odfeld zurückkehren.

Dann erschienen im April 1630 Vertreter der katholischen Zisterzienserabtei Bredelar, beriefen sich auf das kaiserliche Restitutionsedikt im Passauer Vertrag von 1552 und erhoben Anspruch auf das vom vom Orden ja nie aufgegebene Amelungborn. Das bedeutete, Berkelmann samt Familie, dem Pfarrer und den letzten Schülern mußte wieder nach Einbeck ausweichen. In Amelungsborn wurde unter dem Ordensabt Cruse wieder katholischer Gottesdienst gehalten. Dann ermöglichten es Siege der evangelischen Partei Berkelmann, 1631 wenigstens zeitweilig nach Amelungsborn zurückzukehren und mit der Aufbauarbeit zu beginnen. Hier endeten auch die Bemühungen des Zisterzienserordens, Amelungsborn wieder in den alten Stammesverband zurückzuholen. Obwohl ein formeller Ausschluß unterblieb, waren Kontakte seitens des Herzogs grundsätzlich nicht erwünscht, und so konnten erst nach der Wiederbegründung des Klosters in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts neue Beziehungen und Begegnungen erfolgen.

Noch nahm der Krieg mit seinen Schrecken kein Ende. An die Fortführung der Klosterschule war vorerst nicht zu denken, und der Abt ohne Kloster, Berkelmann, war inzwischen einer Berufung  in das Doppelamt eines Stadt- und Generalsuperintendenten im damals noch selbständigen Fürstentum Göttingen gefolgt, das er übrigens sehr schätzte. Ein Prälat im Herzogtum Wolfenbüttel und zugleich im Fürstentum Göttingen: so etwas hatte es noch nicht gegeben! Er starb als Prälat zweier souveräner Staaten 1645 in Göttingen.

Noch sollte das Weserbergland nicht zur Ruhe kommen. Die zuletzt in Hessen operierende kaiserliche  Hauptarmee unter Graf Piccolomini stieß 1640 mit 70.000 Mann über Höxter in den Holzmindener Raum vor, um sich Winterquartier zu beschaffen, wurde aber von marodierenden protestantischen Einheiten abgedrängt, die nun ihrerseits Proviant und Quartiere einforderten. Verwüstungen ungekannten Ausmaßes folgten und machten den Niedergang der ganzen Region vollkommen. Später notierte Abt Ritmeier im Hauptbuch der Holzmindener Stadtkirche von 1750:  „Im Jahre 1640 ist die Stadt  Holzminden gäntzl. eingeäschert und ruiniret worden. In welchem Brande die Urkunden und documenta von der Kirche ebenfalls mit sind verlohren gegangen.“

Im Braunschweigischen waren 300 Dörfer ganz wüst geworden, Stadtoldendorf hatte nach neunmaliger Eroberung noch 40 Einwohner; in Lobach standen noch 8 von 18 Höfen mit insgesamt 8 männlichen Bewohnern. Der Zustand des Klosters und seiner Klosterhöfe war bei 28.000 Talern Schulden und bei geringen Einnahmen desolat, die Moral der Landbewohner gesunken, und es gab wenig Aussicht auf bessere Zeiten. Zwar führte jetzt der Helmstedter Professor Statius Fabricius (1647-1649; gest. 1651) den Abtstitel, aber er hatte keine Gelegenheit, seine Amtspflichten in dem verwüsteten und verarmten Kloster auszuüben.

Und doch erfahren wir staunend, wie schnell sich das Kloster aus Krieg und Elend und nach Beseitigung der gröbsten erlittenen Schäden erholen konnte. Dazu bedurfte es fördernder Anstöße von seiten des Landesherrn, und die kamen nicht zuletzt mit der Klosterordnung Herzog Augusts d.J. (1635-1666) aus dem Jahre 1655. Sie bedeutete einerseits den Erhalt, ja neuerlichen Aufschwung des Klosters, gleichzeitig aber auch mit einschneidenden Veränderungen die weitere Einengung der äbtlichen Amtsgewalt. Die Verwaltung des Klosterguts, seines Vermögens und der Einkünfte lag nun ganz in den Händen herzoglicher Amtmänner: die Klosterökonomie wurde zum reinen Staatsbetrieb. So wurde auch das Kirchenwesen immer mehr zu einem Zweig der Staatsverwaltung und von der fürstlichen Landespolitik abhängig. Die Konsistorien, als Gremien konzipiert, die den Herzog als höchsten Bischof des Landes in Kirchenfragen zu beraten hatten, zu reinen Staatsorganen.

Hermann Toppius (1655-1675), seit 1654 Generalsuperintendent in Holzminden, wurde sogleich nach Erlaß der Klosterordnung in die Amelungsborner Prälatur eingesetzt. Sein und seiner Nachfolger Amts- und Wohnsitz war nun in Holzminden. Diese Doppelfunktion übten insgesamt 12 Amelungsborner Äbten bis 1837 aus. Toppius mußte noch erleben, das der von Abt Vitus Buchius errichtete Dachreiter der Klosterkirche - er hatte den 30jährigen Krieg unbeschadet überdauert - in Flammen aufging. Abt  Herbert Rudolphi (1676-1684) ließ ihn 1684 durch den barock geschweiften Helm ersetzen, der uns als Wegmarke auf dem Odfeld bis vor kurzem so vertraut war.

Herzog August war davon überzeugt gewesen, daß Klöster in der herkömmlich- korporativen Form unter einer Ordensregel bedeutungslos geworden waren. Aber er konnte sie sich auch als sinnvolle Orte des Studiums und der Versenkung vorstellen, wo Menschen die „zu dem Weltwesen gar keine Lust haben“ in lutherischer Selbstverantwortung lebten. Es gelang nun Abt Toppius gegen die Bedenken des Landesherrn in Amelungsborn die Wiederaufnahme des Unterrichts durchzusetzen. Die Schule bekam einen neuen Rektor, der den Hauptteil der Unterweisungen zu besorgen hatte, und einen Kantor, in dessen Verantwortung unter Einbeziehung der Zöglinge die Fortsetzung der klösterlichen Traditionen lag. Ein Prior predigte im Kloster und den Pfarren in Negenborn und Holenberg.

Noch einmal nahm die Anstalt einen unerwarteten Aufschwung, und die Wirtschaft machte derartige Fortschritte, daß die Obrigkeit im 2. Drittel des 17. Jahrhunderts im Anschluß an die „alte Schule“ (Das Slaphus), in der das  Schülerinternat verblieb, ein festes Doppelhaus für Rektor und Kantor errichten konnte, die „Kantorey“.

Aber dann entstanden neue Bildungseinrichtungen aufklärerischen Zuschnitts: in den Städten bevorzugt geförderte Lateinschulen. 1738 wurde die Universität Göttingen gegründet, 1745 das Collegium Carolinum, später Technische Universität Braunschweig, usw. Und die abseitige Lage des Klosters, ihre Vernachlässigung durch die fernen Amtsträger und zurückgehende Attraktivität für Lehrer und Schüler bedingten schließlich die Verlegung der Anstalt in die Weserstadt, wo sie mit der städtischen Lateinschule vereinigt und 1760 in Anwesenheit der Fürstlichen Familie als Amelungsbornsche Kloster- und Stadtschule eingeweiht wurde. Der von Herzog Carl kolportierte   Ausspruch: „Eine hohe Schule der Wilddiebe konveniert weder Uns noch Unserem in Gott ruhenden Ahnen“ wirft vielleicht ein erklärendes Licht auf die damaligen Zustände im alten Kloster und die Sinnfälligkeit der Verlegung. Die Verlegung muß letztlich als Akt der landesherrlichen Gewalt des aufgeklärten absoluten Fürsten gesehen werden.

Das Kloster hatte dadurch natürlich eine weitere tragende Stütze seines ursprünglichen nachreformatorischen Konzepts verloren, zumal sich die Stadt Holzminden als konkurrierenden Visitator neben dem Abt etabliert hatte. Der jeweilige Abt war in seiner Eigenschaft als Generalsuperintendent mit außerklösterlichen Aufgaben belastet, er fungierte darüber hinaus als kirchlicher Epherus und Lehrer an der Klosterschule, wo sein Prior als Rektor, die übrigen Konventualenstellen als Lehrkräften wirkten. Jetzt war eine neue Konventualschaft  als Lehrkörper entstanden. Ein Versuch, das gesamte öffentliche Schulwesen des Herzogtums Braunschweig zu reformieren und zugunsten eines fürstlichen Schuldirektoriums ganz aus der Oberleitung der Kirche zu lösen, scheiterte zwar zunächst, führte aber doch 1875 zur Überführung der Holzmindener Klosterschule in die alleinige Trägerschaft der Stadt, ein Zustand, der bis 1954 bestehen blieb. 

Vielleicht kann an dieser Stelle eine Momentaufnahme aus dem Jahre 1799 am besten einen Eindruck von dem Schicksalsort Kloster jener Zeit vermitteln: Wie sah es damals auf  Amelungsborn aus, wie lebte es sich dort? – In einer kleinen Schrift „Der braunschweigische Weser-Distrikt“ des Verlags Hüpke & Sohn, Hoflieferant, ist dazu zu lesen:
   Amelunxborn „enthält außer der großen, schönen, in Form eines Kreuzes, massiv gebaueten Klosterkirche, die eine Länge von 207 und eine Breite von 89 Fuß hat, und verschiedene merkwürdige Denkmäler aufweiset, das Kloster und die weitläuftigen Gebäude des Klosterhaushaltes, ein Wirthshaus, einige Häuslingshäuser, überhaupt 14 Feuerstellen und 130 Einwohner. Der Prediger zu Negenborn ist Klosterprediger, und die Kinder gehen zur dasigen Schule ... Zu dem Pachthaushalte des Klosters gehören weitläufigte Ländereien und Wiesen, eine Schäferei von 1200 Köpfen und die Kruggerechtigkeit in allen Dörfern des Klostergerichts. Das dasige Wirthshaus ist gut eingerichtet. Der Forstbach treibt bei dem Kloster die Grundmühle mit 2 Mahl- und 1 Oehlgange.“
In Amelungsborn wurden immer noch Residenztagungen abgehalten und bis ins 19. Jahrhundert hinein die Einführung neuer Äbte und Konventualen nach der Klosterordnung von 1655 gefeiert. Aber Amelungsborn war doch zum reinen Wirtschaftsbetrieb degeneriert, dem Einfluß von Abt und Konvent entzogen, Auch das Predigtamt und die Seelsorge in den Klostergemeinden erledigten längst eigene Gemeindepfarrer.

Zur Zeit der napoleonischen Überfremdung fiel Amelungsborn 1807 vorübergehend unter die Amtsgewalt des westphälischen Kantons Stadtoldendorf . Die Erträge des Gutes gingen an französische Nutznießer, die Kirche wurde profaniert und als Abstellraum und Schafstall mißbraucht. Immerhin erhielt der Abt nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft anno 1813 seine überkommenen Rechte zurück. Aber was blieb vom evangelisch-lutherischen Kloster, nachdem 1835 auch die Ämterverbindung Generalsuperintendent – Abt von Amelungsborn aufgehoben und der Abtstitel fortan an geistliche Konsistorialräte in Wolfenbüttel  vergeben wurde?

Längst hatten am lange vernachlässigten Klosterort Verfall und Abriß an den Gebäuden sichtbare Spuren hinterlassen: die Kirche war von Vögeln und Vieh verunreinigt, die kostbaren Glasfenster beschädigt, Kreuzgang und Slaphus abgerissen, Orgel und Glocken ruiniert. Erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nahm die Braunschweigische Landeskirche die Wiederherstellung und Sicherung wenigstens der Klosterkirche in Angriff, weniger von kulturhistorischer Verantwortung geleitet, als um ihre sakrale Funktion als Gemeindekirche wieder herzustellen.

Dann starb 1912 der Konsistorialrat und 55. Abt Johann Karl Theodor Schütte. Das Schicksal des Klosters schien nun endgültig besiegelt. Heute wissen wir, daß mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs und der nachfolgende Errichtung eines konfessionell neutralen Freistaates  Braunschweig eine 48 jährige Vakanz begann – aber wie sie beendet wurde und was sich in der Zwischenzeit ereignete, muß Thema eines anderen Referats sein!


Noch zwei Nachträge seien gestattet:
Wilhelm Raabe, geboren 1832 als Sohn des Holzmindener Postmeisters Karl Raabe, besuchte um 1840, zur Zeit Abt Banks, die Amelungsborner Klosterschule, bis die Familie aus beruflichen Gründen nach Stadtoldendorf umzog. Sein Vater hatte an selbiger Anstalt den Gymnasialabschluß erworben. Jedenfalls bewirkte Sohn Wilhelm, der bekanntlich mit Theodor Fontane zu den bedeutendsten Erzählern des poetischen Realismus gehörte, daß Amelungsborn als literarischer Topos wieder in der Öffentlichkeit bekannt wurde. In mindestens 10 seiner rd. 60 bedeutenderen Erzählungen und Romane lassen sich offene oder verschlüsselte Bezüge zum Weser-Solling-Raum nachweisen, und in dem 1887 erschienenen „Das Odfeld“ und zwei weiteren Erzählungen wird Amelungsborn direkt angesprochen. In dem großartigen Odfeldroman läßt er uns an einer fiktiven Schlacht im Umfeld des alten Zisterzienserklosters teilnehmen: An historischem Ort, unter Verwendung historischer Figuren, wie des braunscheigischen Herzogs Ferdinand, der die verbündeten braunschweigisch-hannover-großbritannischen Regimenter gegen die französischen Eindringlinge ins Feld führte, entsteht eine Allegorie des in allen Zeiten menschenverachtenden, tötenden und verwüstenden Krieges und der daraus resultierenden „Angst in der Welt“. Und es ist der alte, nach Verlegung der Klosterschule zurückgelassene Magister Buchius, der sich in einer neuen Art von Heldentum der leidenden Kreatur annimmt: mitleidend, tröstend, helfend, Menschen wie Tieren. 

Und dann ist da noch ein sagenhafter Bericht des Chronisten Johann Georg Leuckfeld in seiner Chronologia Abbatum Amelunxbornensum aus dem 17. Jahrhundert. Dieser erzählt aus der Frühzeit des Klosters von einem Gast namens Henrich, der nächtens von einem alten Mann vor das äbtliche Gartenhaus geführt wird. Dort gibt er ihm Papier und Tinte und sagt: schreib und behalte: Diß Haus wird stehen / fallen / und wieder aufstehen“.
Mit dieser Prophezeihung läßt sich die Geschichte des Klosters Amelungsborn kürzer und treffender eigentlich nicht fassen! Und da bleibt nur die Frage: wo stehen wir jetzt?                         --------------------------

Wer übrigens mehr über die referierte Thematik erfahren möchte, dem steht eine umfangreiche einschlägige Literatur über das Kloster, sein regionales Umfeld und die braunschweigische Kirchen- und Landesgeschichte zur Verfügung, die allerdings nicht immer mühelos greifbar ist.
Für leicht zugängige und im allgemeinen befriedigende Informationen verweise ich zunächst beispielhaft auf zwei regelmäßig erscheinende Publikationen:
1. auf die „Beiträge aus dem Kloster Amelungsborn“, die inzwischen in 14 Folgen vorliegen
2. die „Amelungsborner Miniaturen“, nunmehr in 42 Folgen vorhanden.
Dazu kommen gelegentlich spezielle Darstellungen wie etwa das 2003 vorgelegte Memorienbuch des Klosters Amelungsborn oder die 2008 erschienene Monographie Der Amelungsborner 
Klosterhof Schnedinghausen und seine Kapelle.
Die genannten Arbeiten sind von Brüdern unseres Klosters mit nicht geringem ideellen und finanziellen Einsatz erstellt; sie sind eigentlich für jeden von uns von besonderem Wert und können meistens noch bei den Herausgebern abgerufen werden.

Als weiteres Angebot bietet sich unsere Neue Bibliothek mit ihren umfassenderen und inzwischen wohlgeordneten Beständen an. Da  die Entscheidungskompetenzen hinsichtlich ihrer Verwaltung und Anschaffungspolitik noch ungeklärt sind,  stellen sich allerdings der Benutzung zur Zeit noch Schwierigkeiten entgegen: es fehlen die Benutzer- und eventuelle Ausleihemodalitäten. Wünschenswert wäre deshalb eine baldige offizielle Regelung.
(Referat für die Familiaritas am 8.5.2009)